Anastasija 06 - Widrige Umstände
uns zum Teufel jagen sollte. Dass wir zu blöd sind, Verbrechen aufzuklären, dass wir uns den Erstbesten greifen, der uns in die Hände fällt, dass bei uns lauter Unschuldige im Gefängnis sitzen und brutale Verbrecher frei rumlaufen. Die ganze Leier.«
»Kluger Junge. Und was wird uns der Untersuchungsführer sagen?«
»Kommt drauf an, was für Beweise wir ihm vorlegen können. Den Fall bearbeitet Olschanski, der ist eigentlich hart im Nehmen. Vielleicht hat der ja keinen Schiss vor Kowaljow.«
»Vielleicht.« Gordejew kaute auf seinem Brillenbügel. »Vielleicht hat er keinen Schiss«, wiederholte er nachdenklich. »Na schön, fahr zum Untersuchungsführer und erzähl ihm die hübsche Geschichte von Schumilins Vendetta. Er kann sich ja erst mal die Opfer der früheren Fälle vornehmen. Die Kinder werden natürlich eingeschüchtert sein, außerdem ist ja einige Zeit vergangen seitdem, aber vielleicht kommt ja doch was dabei raus. Von Winogradow vorerst kein Wort. Für Olschanski ist Schumilin ein Vorbestrafter, nichts weiter. Unser Untersuchungsführer ist zwar hart im Nehmen, aber wir wollen ihn doch nicht vor der Zeit verschrecken. Er soll dir sagen, welche Beweise er für eine wasserdichte Anklage gegen Schumilin braucht. Und wir überlegen dann, wie wir diese Beweise beschaffen.«
Als Lesnikow gegangen war, sprang Gordejew auf und rollte wie ein praller Gummiball durch sein Büro, um den großen Sitzungstisch herum. War es auch kein Fehler, dem Untersuchungsführer eine Information vorzuenthalten? Sie war zwar für den Fall ohne Belang, aber trotzdem, trotzdem . . . Ließ er Olschanski damit nicht unvorbereitet ins offene Messer laufen? Aber was für ein Messer eigentlich? Was drohte Olschanski denn Schlimmes? Eine unangenehme Auseinandersetzung mit dem Vater des Opfers? Das war nicht gesagt. Kowaljow konnte sich durchaus als anständiger Mensch erweisen und die Ermittlungen in keiner Weise behindern. Warum war er, Gordejew, so voreingenommen gegen ihn? Und Olschanski war wirklich kein Angsthase, da hatte Lesnikow Recht. Womit könnte Kowaljow ihn schon groß einschüchtern? Und wenn es nun nicht Schumilin war? Wenn sie sich irrten? Zu viele Zufälle? Gordejew lachte spöttisch. In fünfundzwanzig Jahren als Kriminalist hatte er erfahren, was für unglaubliche, unfassbare Zufälle es gab. Wegen solcher Zufälle hing mitunter das Leben und Schicksal eines ehrlichen Menschen an einem seidenen Faden. Und manchmal riss dieser Faden leider auch. Das kam vor.
Gordejew rollte zum Sessel und nahm den Telefonhörer ab. Er musste das Messer auf sich lenken.
»Konstantin Michailowitsch? Ich grüße Sie. Gordejew.«
»Guten Tag, Viktor Alexejewitsch. Schön, von Ihnen zu hören«, ertönte Olschanskis leicht schnarrende Stimme.
»Konstantin Michailowitsch, Lesnikow kommt gleich zu Ihnen wegen Natascha Kowaljowa. Wir haben hier eine Idee, er wird es Ihnen erzählen. Aber das ist vorerst alles sehr vage. Ich möchte Sie bitten, schreiben Sie mir eine gesonderte Order für die Vernehmung des Vaters des Opfers aus. Lesnikow kann sie gleich mitnehmen. Die Hypothese ist doch noch sehr strittig, also will ich die Suppe im Fall des Falles lieber selbst auslöffeln. Damit Sie nicht rot werden müssen, wenn wir uns geirrt haben.«
»Viktor Alexejewitsch, ich werde schon lange nicht mehr rot.« Olschanski lachte. »Aber Kowaljow überlasse ich Ihnen mit Vergnügen. Er ruft mich jeden Tag, den Gott werden lässt, an und verlangt Rechenschaft, wie wir nach dem Vergewaltiger suchen. Da können Sie ihm gleich einen Rapport liefern. Ich habe heute in der Klinik angerufen, wo das Mädchen liegt, und der Arzt sagt, die Aussichten sind gut, es besteht Hoffnung, dass sie in den nächsten Tagen wieder anfängt zu reden.«
»Verstanden«, antwortete Gordejew knapp. »Ich werde einen meiner Jungs dort postieren, um den Moment nicht zu verpassen. Danke.«
Gordejew legte auf und überlegte, wie viel Zeit er brauchte, um sich auf Kowaljows Besuch vorzubereiten. Die Bitte um eine Vernehmungsorder war nur ein schlauer Trick gewesen. Er wollte Kowaljow gar nicht vernehmen, er wollte ihn nur hier in seinem Büro haben; er musste sehen, wie er auf den Namen Schumilin reagierte. Und wie sollte er sonst an Kowaljow herankommen, ohne seine Karten vor dem Untersuchungsführer aufzudecken?
Gordejew beschloss, erst dringendere Dinge zu erledigen, darunter die Überprüfung der Hypothesen im Fall Filatowa.
Da niemand der in diesem Fall
Weitere Kostenlose Bücher