Anastasija 06 - Widrige Umstände
Täter zu finden und zu überführen. Dass er bislang noch nicht gefasst ist, heißt nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen und nicht nach ihm suchen.«
»Nicht doch, nicht doch«, widersprach Kowaljow hastig, »das habe ich gar nicht gemeint. Ich habe tatsächlich täglich bei Konstantin Michailowitsch angerufen, aber Sie müssen verstehen, ich als Vater . . .«
»Ich verstehe Sie«, versicherte Gordejew sanft. »Ich weiß Ihren Takt zu schätzen, wissen Sie, das trifft man nicht oft. Ich weiß, dass Sie sich nicht beschwert haben, weder bei Olschanskis Vorgesetzten noch bei meinen. Sie haben offensichtlich Verständnis für unsere Schwierigkeiten – zu wenig Personal und eine starke Überlastung der Ermittlungsbehörden, und dafür sind wir Ihnen dankbar.«
Gordejew, der normalerweise in kurzen, knappen Sätzen sprach, hatte sich diesen eleganten Text vorher aufgeschrieben und ihn auswendig gelernt. Er wollte Kowaljow einlullen, ihm suggerieren, dass »intelligente Menschen sich immer einigen können«.
»Darum«, fuhr Gordejew nach einem kurzen Blick auf seinen Spickzettel fort, »werde ich Sie über den Fortgang der operativen Ermittlungsarbeit zur Aufklärung der Vergewaltigung Ihrer Tochter informieren. Erstens . . .«
Gordejew zählte lang und breit alles auf, was die von Igor Lesnikow geleitete Gruppe im Laufe von drei Wochen getan hatte, und warf mit Fakten um sich: die Zahl der überprüften Jugendlichen, der registrierten Sexualtäter, der wegen Rowdytums Vorbestraften und anderer einschlägig bekannter Personen. Um seine Worte zu untermauern, nahm der Oberst sogar ein dickes Kuvert aus dem Safe und wedelte damit vor Kowaljow herum.
»Hier drin sind die Fotos aller, die bislang als Verdächtige infrage kommen. Sobald Ihre Tochter so weit ist, dass sie aussagen kann, werden wir ihr diese Fotos zur Identifizierung vorlegen. Sehen Sie, wie viele es sind? Das Ergebnis mühevoller Kleinarbeit!« Gordejew machte eine ungeschickte Handbewegung, und ein paar Fotos fielen aus dem Kuvert, glitten über den glatt polierten Tisch direkt zu Kowaljow. Neugierig betrachtete der die Gesichter auf den Fotos.
»Seien Sie doch bitte so gut und geben mir die Fotos, ich komme nicht ran.« Verlegen wegen seiner Ungeschicklichkeit, sammelte Gordejew die Fotos vom Tisch.
Die erste Etappe haben wir glücklich hinter uns, dachte Gordejew. Du hast ein Foto von Schumilin in der Hand gehalten und ihn nicht erkannt. Du erinnerst dich also nicht an ihn. Kein Wunder, die Sache ist vier Jahre her, und von solchen Schumilins hast du als Schöffe mindestens ein Dutzend gesehen. Den Trick mit den versehentlich aus dem Kuvert rutschenden Fotos hatte Gordejew schon unzählige Male benutzt.
»Aber«, Gordejew legte das Kuvert in den Safe zurück und setzte sich die Brille wieder auf die Nase, »unter diesen Personen ist ein Mann, gegen den ein besonders starker Verdacht vorliegt.« Er machte eine Pause. »Ein gewisser Schumilin, Sergej Viktorowitsch. 1968 geboren, Neffe vom Präsidenten des Fonds zur Unternehmensförderung, Winogradow.«
Kowaljow erstarrte, rote Flecke traten auf seine Wangen, seine Augen irrten hektisch umher.
»Sind Sie . . . Sind Sie sich sicher?«, brachte er hervor.
Gordejew schwieg, er tat, als blättere er in den Papieren auf seinem Tisch.
»Nein«, ließ Kowaljow sich erneut vernehmen, »das ist ein Irrtum. Ich kenne Sergej seit vielen Jahren. Ein grundanständiger Junge. Ernsthaft, freundlich und ehrlich. Ich bin nämlich mit Winogradow befreundet. Unsere Familien sind befreundet. Ich wiederhole noch einmal, ich kenne Sergej sehr gut.« Seine Stimme wurde kräftiger, er hatte sich wieder in der Gewalt und sein Verhalten unter Kontrolle. »Ich bin mir sicher, das ist ein tragischer Irrtum. Das kann einfach nicht sein.«
Na klar, du kennst ihn, dachte Gordejew. Vielleicht hat der Onkel ja seinen Neffen Sergej mal erwähnt. Aber Winogradow hat dir bestimmt nicht erzählt, dass sein Neffe verurteilt wurde, wenn auch auf Bewährung, und zwar wegen Trunkenheit am Steuer. Sonst würdest du mir jetzt nicht weismachen wollen, was für ein guter, anständiger Kerl dein Sergej ist.
Laut aber sagte Gordejew:
»Durchaus möglich, dass Sie Recht haben, Vitali Jewgenjewitsch. Es ist bislang nur eine grobe Hypothese, wir sind uns selbst noch nicht sicher. Ich müsste Ihnen das alles gar nicht erzählen und würde Ihnen damit überflüssige Aufregungen ersparen, zumal, wenn die Hypothese sich nicht bestätigen
Weitere Kostenlose Bücher