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Anastasija 06 - Widrige Umstände

Anastasija 06 - Widrige Umstände

Titel: Anastasija 06 - Widrige Umstände Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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für dieses Jahr im Plan, es war bereits Mitte Juni, und unter den Papieren gab es keine Rohfassung, keine Gliederung, keine Entwürfe – nichts. Nastja schlug die Dissertation, die sie am Vortag gelesen hatte, noch einmal auf und erinnerte sich, was ihrer Ansicht nach nicht ins Bild gepasst hatte.
    »Ljoscha!«, rief sie. »Bring mir mal mein Telefonbuch, es liegt auf dem Kühlschrank.«
    Ljoscha, ein passionierter Patiencespieler, riss sich von »Napoleons Grab« los, das seit Stunden nicht aufgehen wollte, nahm das dicke Buch und ging ins Zimmer.
    »Soll ich dir hoch helfen?«, fragte er fürsorglich, denn er wusste, dass Nastja, wenn sie Rückenschmerzen hatte, zwar liegen oder stehen konnte, nicht aber ohne fremde Hilfe ihre Lage verändern.
    »Erst mal nicht. Und sei so gut, gib mir den Stapel Bücher da vom Tisch.«
    Nastja sah ins Telefonbuch und blätterte langsam Irinas Adressbuch und ihre Taschenkalender durch. Die Filatowa war offensichtlich nicht sehr gesellig gewesen, ihr hatte wenig daran gelegen, ihren Bekanntenkreis zu erweitern. Das Adressbuch enthielt noch die Dienstnummer des bereits neunzehnhunderteinundachtzig pensionierten Chefs des Informationsdienstes der Moskauer Innenverwaltung, das heißt, Irina hatte dieses Buch seit mindestens zehn, fünfzehn Jahren geführt und alle ihre Bekannten mühelos darin untergebracht.
    Nastja fand nicht, wen sie suchte, und wandte sich den Kalendern zu. Die üblichen Eintragungen: Sitzungen, zu erledigende Anrufe, Geburtstage. Eine ganze Seite war voll mit den sorgfältig, mal in Schreibschrift, mal in Druckschrift, mal mit Schnörkeln und Kringeln geschriebenen Wörtern »Wladimir Nikolajewitsch«. Eine typische Beschäftigung, wenn man auf einer langweiligen Sitzung saß und so tat, als schriebe man mit. Wer war dieser Wladimir Nikolajewitsch? Ein weiterer Verehrer? Donnerwetter, Irina!
    Das ist doch sonderbar, dachte Nastja. Dauernd stößt man auf etwas, das man nicht erwartet, und kann nicht finden, was unbedingt da sein müsste.
    »Ljoscha, hilf mir hoch!«, bat Nastja. Als sie dann stand, an den Küchenschrank gelehnt, fragte sie: »Was meinst du, kann ein Mensch verschlossen und zugeknöpft und zugleich durch und durch falsch sein?«
    »Theoretisch bestimmt«, bejahte Ljoscha. »Aber praktisch wohl kaum. Das wäre unökonomisch.«
    »Das musst du mir erklären«, verlangte Nastja.
    »Wenn jemand verschlossen und zugeknöpft ist, warum sollte er dann lügen und sich verstellen? Das ist doch ein enormer Kraftaufwand. Es ist viel einfacher, gar nichts zu erzählen. Verschlossenheit und offenkundige Falschheit sind zwei Methoden, die ein und demselben Zweck dienen: die anderen nicht wissen zu lassen, wer du wirklich bist. Sich nicht zu offenbaren. Normalerweise entscheidet sich der Mensch für eins von beiden, je nach Charakter und Denkweise. Beides zugleich passt schlecht zusammen«, erläuterte Ljoscha, ohne sich von seinen Karten zu lösen.
    »Das denke ich auch.«
    Und innerlich ergänzte Nastja: Warum lügen Sie, Alexander Jewgenjewitsch? Irinas Dissertation enthält keine einzige Zahl aus dem Bezirk, in dem Sie zu leben und arbeiten geruhten. Dieses Adressbuch enthält keine einzige Telefonnummer mit der Vorwahl dieses Bezirks. Auch Ihren Namen nicht. Ihre Daten stehen nur auf ihrem Schreibtischkalender, auf dem Blatt vom fünfzehnten Oktober letzten Jahres, aber nur Ihre neuen, Ihre Moskauer Daten. Und daneben ist ein großes Fragezeichen. Warum also sagen Sie uns die Unwahrheit?
    Gegen Abend legten sich die Rückenschmerzen, und Nastja schickte Ljoscha nach Hause, nach Shukowski, wobei sie ihm hoch und heilig schwor, dass sie das Zubettgehen und das Aufstehen am nächsten Morgen allein bewältigen würde.
    Nastja streckte sich unter der Bettdecke aus und rekonstruierte in Gedanken noch einmal die Ermordung der Filatowa. Irina fährt in die achte Etage, klappt die Fahrstuhltür zu, schließt die Wohnung auf. Die alten Nachbarn erwachen. Irina betritt den dunklen Flur, und hier geschieht etwas, das bislang nicht klar ist. Aber dazu später. Irina verliert das Bewusstsein, der Mörder legt sie im Flur auf den Boden, zieht ihr die Schuhe aus und stellt sie unter die Flurgarderobe – in der Küche wurden keine Spuren ihrer nassen Turnschuhe gefunden. Dann trägt er Irina zum Herd und legt ihre Hand an die nötige Stelle. Er selbst trägt Gummihandschuhe, ihm kann der Strom nichts anhaben. Irina bekommt einen Stromschlag und ist auf der Stelle tot. Der

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