Anastasija 06 - Widrige Umstände
Kriminalitätsstatistik wie eine spannende Abenteuergeschichte, wo dem Helden auf dem Weg zum erträumten Ziel böse Feinde auflauern: Unkenntnis der Gesetze, Misstrauen gegenüber der Miliz, Mitleid mit dem Täter und viele, viele andere. So gut und flüssig schrieb nur jemand, der sein Thema wirklich beherrschte und liebte. Nastja blätterte in den Tabellen im Anhang, und eine vage, noch unbestimmte Unruhe schlich sich in ihr von der Hitze ganz aufgeweichtes Gehirn. Doch noch ehe sie dieses Gefühl richtig erfasst hatte, fesselte eine Frau, die sich an den Nebentisch setzte, ihre Aufmerksamkeit. Nastja, die sich mit ihrer eigenen Unscheinbarkeit abgefunden hatte, reagierte lebhaft auf fremde Schönheit, konnte sich immer wieder daran ergötzen und sie genießen. Auch jetzt war sie ganz fasziniert von der Unbekannten, sah sich aber auch deren Begleiter genau an.
Die Frau war eine wirkliche Schönheit: groß, schlank, mit dichtem dunkelrotem, fast kastanienbraunem Haar, das ihr wie ein schwerer Umhang auf Schultern und Rücken fiel. Ihre Bewegungen waren ungestüm, als könne sie ihre überschäumende Energie und ihr Temperament nur mühsam zügeln. Jetzt schlug sie die Beine übereinander, und diese Geste wirkte wie ein Versprechen, eine vage Verlockung. Ihr Begleiter beugte sich weit vor, beherrschte sich dann aber und lehnte sich entspannt in seinen wackeligen Stuhl zurück. Nun griff sich die Frau mit der manikürten Hand ins Haar und fuhr wie mit einem Kamm hindurch. Ihr bronzefarbener Nagellack funkelte in der Sonne, es sah aus, als zuckten in der dunkelroten Mähne kleine Flämmchen auf. Hin und wieder schüttelte die Frau den Kopf, und dann lief eine Welle durch ihr langes Haar, die sich auf ihrem Rücken fortsetzte und über die Beine bis hinunter zu den Zehenspitzen in den offenen Sandalen zu fließen schien. Die leidenschaftliche Frau, die eine flammende Aura um sich verbreitete, erinnerte Nastja an eine junge, störrische Stute mit langer roter Mähne, unter deren gepflegter glänzender Haut die Muskeln spielten. Gierig sog sie jede Geste der Schönen auf, registrierte mit ihrem sensiblen Gehör das heisere Lachen und die etwas sonderbare Intonation. Nastja, die ein absolutes Gehör besaß und sich mit Fremdsprachen gut auskannte, überlegte, dass dieser Tonfall typisch für Engländer war, obwohl die Frau fließend und ohne den geringsten Akzent Russisch sprach. Wahrscheinlich hat sie lange im Ausland gelebt, dachte sie und sah mit Bedauern, dass Ljoscha die Allee entlangeilte, beinahe rannte.
Den Rest des Samstags und den Sonntag verbrachte Nastja auf dem Fußboden liegend (selbst die wenigen hundert Meter mit der schweren Tasche hatten genügt, um ihre Rückenschmerzen zu verschlimmern), um sich verstreut Dokumente und Manuskripte, Entwürfe und Berechnungen von Irina Filatowa. Irina war ein ordentlicher Mensch gewesen, hatte eine schöne Handschrift gehabt und selbst Entwürfe von Diagrammen und Zeichnungen mit dem Lineal und auf Millimeterpapier angefertigt. Nastja griff nach einem Blatt mit der Überschrift »Ermittlungsarbeit. Wladimir.« Das Diagramm enthielt vier mit Filzstift gezeichnete verschiedenfarbige Linien, die bedeuteten: »Aufgeklärt«, »Eingestellt«, »Ans Gericht übergeben«, »An Schiedsstellen übergeben«. Die Linie für die Anzahl der aufgeklärten Fälle blieb fast konstant. Doch die Linien für »Ans Gericht übergeben« und »An Schiedsstellen übergeben«, die bis 1985 fast parallel verlaufen waren, drifteten auf einmal stark auseinander, die erste ging nach unten, die zweite stieg steil an. Unter der Zeichnung stand die eng geschriebene Notiz: »Klären, ob es 1985 Umbesetzungen bei der Staatsanwaltschaft gab. Wenn nicht, Registrierkarten anfordern.« Prima, Irina Sergejewna, dachte sie anerkennend, du hast zwar keinen einzigen Tag als Ermittlerin gearbeitet, aber du weißt genau, wo man was suchen muss. Wenn eine Strafsache eingestellt und an Schiedsstellen übergeben wird, dann entweder, weil der Täter keine nennenswerte Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt oder weil der Untersuchungsführer weiß, dass die Beweise nicht ausreichen und die Anklage vor Gericht einstürzen würde wie ein Kartenhaus, oder weil die Anforderungen der Staatsanwaltschaft an die Stichhaltigkeit der Anklage strenger geworden sind. Nastja sah sich das Material aufmerksam an. Seltsam, aber sie fand keinerlei Hinweise darauf, dass die Filatowa an einer Monographie arbeitete. Das Buch war
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