Anastasija 06 - Widrige Umstände
meine Theorie?«
»Nicht nur. Aber fangen wir erst einmal damit an, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Die Lebedewa holte Stift und Notizblock aus der Tasche und schlug auf eine Weise die Beine übereinander, die Pawlow den Atem nahm.
»Ich gehe davon aus«, begann Pawlow bedächtig, »dass jemand, der ein Bestechungsgeld zahlt, eine bestimmte Handlung einer Amtsperson oder eines niederen Staatsbeamten dringend benötigt. Diese Handlung, nennen wir sie Dienstleistung, hat in seinen Augen einen bestimmten Wert, einen Gebrauchswert also. Und er ist bereit, für diese Dienstleistung einen Preis zu zahlen, der in seinen Augen dem Gebrauchswert angemessen ist. Ist dieser Gedanke verständlich?«
Die Journalistin nickte, ohne von ihrem Notizblock aufzusehen.
»Weiter. Ich gehe davon aus, dass der Beamte, der über Vollmachten verfügt, die es ihm ermöglichen, eine Ware zu erzeugen, also eine gewisse Dienstleistung zu erbringen, entscheiden muss, ob er die Ware erzeugt oder nicht. Mit anderen Worten, er steht vor einer rein ökonomischen Frage: Wie hoch ist der Selbstkostenpreis der Ware, und welchen Verkaufspreis kann er dafür erzielen. Der Selbstkostenpreis hängt von der Effektivität der inneren und äußeren Kontrolle ab, einfacher gesagt, von der Höhe des Risikos, das er eingeht. Auf dieser theoretischen Grundlage basiert die Konzeption zur Bekämpfung der Korruption. Hauptziel ist die Zerschlagung des Marktes für Korruptionsleistungen durch Beseitigung der Ausgewogenheit zwischen Selbstkostenpreis der Ware für den Erzeuger und Gebrauchswert für den Käufer. Ersterer muss erhöht, Letzterer gesenkt werden, dann ist die Produktion nicht mehr profitabel. Sehen Sie, es ist ganz einfach.«
»Alexander Jewgenjewitsch«, die Journalistin schlug ihren Notizblock zu, legte ihn auf die Tischkante und griff sich mit gespreizten Fingern ins dichte Haar, »was ich aufgeschrieben habe, das werde ich für das Interview verwenden. Aber jetzt habe ich eine ganz persönliche Frage. Erlauben Sie? Was mich seit jeher interessiert, ist der Prozess des wissenschaftlichen Denkens. Ich möchte verstehen, wie neue Anschauungen, neue Theorien entstehen. Erzählen Sie mir, wie Sie zu Ihrem Konzept gekommen sind. Nicht zum Mitschreiben.«
»Das ist doch langweilig, Larissa!«, jammerte Pawlow. »Soll ich etwa einer so schönen Frau erzählen, wie ich nächtelang über Ökonomie- und Kriminologiebüchern gesessen habe? Nein, nein! Berichte über solche Routine sind Ihrer Ohren einfach nicht würdig!«
»Da sind Sie aber eine Ausnahme, Alexander Jewgenjewitsch«, sagte Larissa. »Ich habe diese Frage vielen Menschen gestellt, und sie haben mir nicht nur gern darauf geantwortet, sondern sogar lieber darüber gesprochen als über ihre neue Theorie. Genau wie für mich war für sie der Prozess der wissenschaftlichen Suche wesentlich interessanter als das Ergebnis.«
»Das waren wahrscheinlich echte Wissenschaftler, ich aber bin nur ein Mann der Praxis mit Doktorgrad.« Pawlow zuckte die Achseln. »Außerdem, Larissa, Sie sind doch auch anders als andere, oder? Sie sind nicht nur provozierend schön, Sie sprechen auch eigenartig. Weshalb?«
Die Journalistin war ein wenig verlegen, antwortete dann aber bereitwillig.
»Sehen Sie, ich habe ziemlich lange im Orient gelebt, mein Mann ist im Außenministerium angestellt. Und außerdem, meine Mutter ist eine Türkin aus Aserbaidschan, ich habe als Kind lange Zeit in türkischsprachiger Umgebung verbracht. Haben Sie etwa einen Akzent bemerkt?«
»Nur in der Intonation. Ansonsten sprechen Sie sehr korrekt. Sogar zu korrekt«, betonte Pawlow großmütig.
Während Oberst Pawlow diesen Mittwoch, den vierundzwanzigsten Juni, als den Beginn einer angenehmen, viel versprechenden Bekanntschaft verbuchte, war Nastja an diesem Tag auf eine neue Aufgabe gestoßen. Unter den Papieren der Filatowa, die normalerweise sorgfältig beschriftet und mit ausführlichen Kommentaren versehen waren, fand sich ein Blatt mit unverständlichen und nicht weiter gekennzeichneten Zahlen in acht Spalten. Über den Spalten standen Jahreszahlen von 1983 bis 1990, aber das war auch das einzig Verständliche daran. An der Seite waren die Zeilen mit Zeichen markiert, die Nastja bis zum späten Abend zu entschlüsseln versuchte. Die erste Zeile hieß »R«, die zweite »A«, die dritte »EV«. Die folgenden Zeilen waren mit Zahlen von fünf bis zehn gekennzeichnet, dann folgten »1+3«, »2« und »Gesamt«. Nastja rechnete im
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