Anastasija 06 - Widrige Umstände
Kopf nach und stellte fest, dass die Zahlen in der Zeile »Gesamt« nicht die Summe aller Zahlen der entsprechenden Spalte darstellten, sondern nur die der beiden vorletzten Spalten. Neben den ganzen Zahlen standen in der zierlichen Handschrift der Filatowa Dezimalzahlen, manche mit dem Vermerk »P«, andere mit »R«. Die Filatowa hatte offenkundig viel Zeit über diesem Blatt verbracht: Die gesamte Fläche, die nicht von Zahlen eingenommen wurde, war mit verschnörkelten geometrischen Figuren und miteinander verflochtenen »W« und »N« bedeckt. Die Zeile mit der Ziffer »2« davor war mit leuchtend rotem Filzstift umrandet.
Zwei Dinge fand Nastja relativ schnell heraus. Erstens, die Dezimalzahlen bedeuteten Prozente, die mit »P« gekennzeichneten von der Zahl in der Zeile »Gesamt«, die mit »R« gekennzeichneten von der Zahl in der Zeile »EV«. Zweitens, in der mit rotem Filzstift hervorgehobenen Zeile »2« wuchsen diese Dezimalzahlen erstaunlich rasch, was in den anderen Zeilen nicht der Fall war, mit Ausnahme der Zeile »10«. Doch die Zeile »10« hatte offenbar nicht die Aufmerksamkeit der Filatowa erregt, denn sie war nicht hervorgehoben.
Nastja wusste eines genau: Dieses Blatt gefiel ihr nicht. Sie wunderte sich über die Nachlässigkeit der sonst so pedantischen und gründlichen Irina, die sich nie auf ihr Gedächtnis verließ, sondern alle Berechnungen immer sorgfältig beschriftete. Stutzig machten sie auch die Buchstaben »W« und »N«, denn sie deuteten womöglich auf einen gewissen Wladimir Nikolajewitsch hin, der, nach der mit seinem Namen bedeckten Seite im Kalender der Filatowa zu urteilen, ihre Gedanken stark beschäftigt hatte, jedoch von keinem ihrer Kollegen und Freunde erwähnt worden war. Außerdem beunruhigte Nastja, die inzwischen die Logik und die Arbeitsweise der Filatowa kannte, die nicht hervorgehobene Zeile »10«. Im Kontext der ziemlich stabilen Zahlen in den anderen Zeilen musste Irina ihr jähes Anwachsen einfach bemerkt haben. Aber sie hatte sich nur auf die Zeile »2« konzentriert. Warum?
Das Blatt ließ Nastja nicht einschlafen. Sie wälzte sich lange im Bett herum und machte sich Vorwürfe, nicht rechtzeitig ein Schlafmittel eingenommen zu haben. Die Leuchtziffern auf ihrer Uhr zeigten kurz nach drei, für ein Schlafmittel war es nun zu spät, bis zum Aufstehen blieben nur noch wenige Stunden. Sie stand auf, öffnete den Kühlschrank und goss sich Martini in ein hohes Glas. Wermut wirkte bei ihr fast so gut wie eine Tablette.
Als sie am nächsten Morgen unter der Dusche stand und ihrem Gehirn zum Aufwachen aufgetragen hatte, den Satz: »Alles muss seine Ordnung haben« in alle europäischen Sprachen zu übersetzen, stellte sie mechanisch fest, dass es für das Wort »Ordnung« in einigen Sprachen verschiedene Entsprechungen gab – je nachdem, worauf es sich bezog, konnte es auch mit »Ablauf«, »Handhabung«, »Prozess«, »Durchführung« »Verfahren« übersetzt werden. Sie sprang aus der Wanne, ohne das Wasser abzudrehen, warf sich ein Frotteehandtuch über die Schultern und rannte, nasse Spuren hinterlassend, ins Zimmer. Sie griff nach der Strafprozessordnung, blätterte kurz darin und lachte laut und freudig. Wäre in diesem Augenblick die wissbegierige Journalistin Larissa Lebedewa mit ihrer Lieblingsfrage: »Wie sind Sie darauf gekommen?« in der Nähe gewesen, hätte Nastja ihr kurz und verschwommen geantwortet: »Durchführung von Strafverfahren«.
Bevor Nastja aus dem Haus ging, sah sie noch einmal in den Spiegel.
»Du bist gar nicht schlecht, Alte! Du hast es noch drauf! Wenn du glücklich bist, sind deine blassgrauen Augen plötzlich sogar strahlend blau«, sagte sie laut zu sich selbst.
Viktor Gordejew kam finster wie eine Gewitterwolke zur Arbeit. Am Abend zuvor hatte seine Frau lange mit ihrem Vater telefoniert und war anschließend verstört ins Zimmer zurückgekommen.
»Papa ist außer sich«, sagte sie, setzte sich neben ihren Mann auf das Sofa und streichelte zärtlich seine Schulter. »Sie haben ihn abgewiesen. Letzte Woche lief noch alles glatt, am Montag sollte er endgültig Bescheid bekommen. Am Montag verzögerte sich die Antwort auf Dienstag, am Dienstag hieß es Mittwoch, aber da. war das Gespräch schon sehr kühl, und heute haben sie gesagt, sie sähen keine Möglichkeit, sein Zentrum zu finanzieren. Papa kann sich gar nicht beruhigen, weil sie ihn, einen weltberühmten Kardiologen, behandelt haben wie einen kleinen Jungen.«
Andrej
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