Anastasija 06 - Widrige Umstände
Vorgesetzten, aber Nastja liebte Gordejew ja gerade dafür, dass er sie so nahm, wie sie war.
»Ich muss ins Informationszentrum, Viktor Alexejewitsch.«
»Und? Was spricht dagegen?« Gordejew hob die Augenbrauen.
»Meine Faulheit.«
Das Informationszentrum des Russischen Innenministeriums befand sich in einem luxuriösen Hochhaus im Bezirk Nowyje Tscherjomuschki, ziemlich weit weg von der Petrowka.
»Du bist doch ein Luder, Anastasija!«, sagte Gordejew lachend. »Na schön, nutz meine gute Laune ruhig aus. Notier dir eine Telefonnummer . . .«
»Ich merke sie mir.«
»Frag nach Jelena Konowalowa, beruf dich auf mich. Ich hab mal mit ihrem Vater zusammengearbeitet, ich kannte sie schon als kleines Kind. Sie ist ein nettes Mädchen, sie wird tun, was sie kann. Natürlich nur, wenn du schön bittest. Also, wie steht’s mit den zweihundert?«
»Zwei Fragen sind noch offen. Eine davon hoffe ich mit Hilfe des Informationszentrums zu klären. Die andere hängt bislang in der Luft. Wenn die Filatowa eine Monographie schreiben wollte, wo ist dann das Arbeitsmaterial? Unter ihren Papieren ist nichts, was auf eine Monographie hinweist. Keine einzige Spur. Dabei sollte sie laut Plan das Manuskript im Oktober abliefern, fix und fertig redigiert und vorab in der Abteilung diskutiert.«
»Schön, kümmere dich selbst um diese Fragen.«
Gordejew schwieg und kaute auf seiner Brille.
»Sag mal, Anastasija«, fragte er unvermittelt, »erinnerst du dich, was der Gouverneur Stark seinem Assistenten Burden geantwortet hat, als der sich weigerte, kompromittierendes Material gegen einen grundehrlichen Richter zu sammeln?«
Wie aus der Pistole geschossen antwortete Nastja:
»Der Mensch wird in Sünde gezeugt und in Schmutz geboren, und sein Weg führt von der stinkenden Windel zum modernden Leichenhemd. Irgendwas stinkt immer:«
»Kluges Mädchen!« Gordejew war entzückt. »Kennst du etwa den ganzen Roman auswendig?«
»Nein.« Nastja lächelte. »Nur diesen Satz. Aber Sie haben ihn sich ja auch gemerkt. Offenbar sind unsere Auswahlkriterien die gleichen. Kein Wunder, wir arbeiten ja im selben Metier.«
»Stimmt«, bestätigte Gordejew. »Also, Nastenka, hör mir gut zu. Vitali Jewgenjewitsch Kowaljow hat mich sehr verletzt. Mich persönlich. Außerdem hat er uns alle von oben herab behandelt. Mehr noch, er versucht, einen gefährlichen Verbrecher der Strafverfolgung zu entziehen. Das ist zum Teil vielleicht auch unsere Schuld. Wir wollten Schumilin nicht verhaften, ehe wir überzeugende Beweise gegen ihn hatten. Mir war immer daran gelegen, dass meine Abteilung exakt und ehrlich arbeitet, dass wir keinen Ärger kriegen mit Untersuchungsführern oder Gerichten. Lange Zeit ist uns das gelungen. In den letzten Jahren haben wir niemanden festgenommen, den wir nach zweiundsiebzig Stunden wieder hätten entlassen müssen. Ich habe mich bemüht, Leute in meine Abteilung zu holen, die ihr Handwerk beherrschen oder lernfähig sind. Wir haben viele Fehler gemacht und uns oft geirrt. Aber es ist unser großes Plus, dass wir diese Fehler und Irrtümer rechtzeitig erkennen und sie umgehend korrigieren. Wir alle sind in der Lage, das, was wir tun, kritisch zu beurteilen, wir versuchen unentwegt, uns selbst zu widerlegen. Das ist der Arbeitsstil, für den ich lange Jahre gestritten und gekämpft habe. Und ich habe mein Ziel erreicht. Unsere Abteilung hält zusammen. Wir zerstreiten uns nie. Was andere Kritik nennen, heißt bei uns gegenseitige Analyse. Ich erzähle dir das alles nicht, weil du es nicht weißt. Du weißt es vielleicht besser als ich. Ich möchte, dass du spürst, wie tief Kowaljow mich verletzt hat; er hat meine Idee beleidigt, mein Kind, meinen Hauptgewinn in diesem Leben. Er hat auf unser Berufsethos spekuliert. Meine Entscheidung habe ich getroffen, nachdem er mir gestern den letzten Schlag versetzt hat. Nicht mir, sondern meiner Familie, meinem Schwiegervater, der es ablehnt, westliche Millionäre zu operieren, um Dollars zu scheffeln, sondern der seine eigenen Landsleute behandeln will. Meine Geduld ist erschöpft, Nastenka. Und ich zähle auf dich.«
Solchen echten Schmerz, solchen aufrichtigen Kummer hatte Nastja in der Stimme ihres Chefs noch nie gehört. Gordejew fuhr fort:
»Der Gouverneur Willie Stark hat Recht: Irgendwas stinkt immer. Ich glaube nicht, dass ein Mann, der auf die Justiz pfeift, auf fremde Leben und auf sein eigenes Kind, sein Leben lang ehrlich war. Das glaube ich einfach nicht. Darum bin
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