Anastasija 06 - Widrige Umstände
hundertzwanzig.«
»Was?« Nastja ließ beinahe den Hörer fallen.
»Hundertzwanzig. Pädophilie. Das habe ich mir gemerkt, weil der Paragraph relativ selten vorkommt, auf den Karteikarten war das überhaupt der einzige Fall. Ich hab damals noch gedacht, dass er genauso heißt wie der Leiter unserer Druckerei. Nein, an den Vor- und Vatersnamen kann ich mich natürlich nicht erinnern.«
Ein Namensvetter? Ein Verwandter? Oder war Boris Wassiljewitsch Rudnik selbst ein Liebhaber minderjähriger Mädchen? Verdammt, da war sie in eine schöne Lage geraten. Vielleicht war es ja wirklich nur ein Namensvetter. Aber wenn nicht? Dann durfte sie Pawlow nicht um Hilfe bitten wegen Rudnik. Also musste sie ihr ganzes Szenarium umschreiben. Ach, wie dumm, wenn es sich wirklich um denselben Rudnik handelte! Das heißt, für den Fall Filatowa war das natürlich gut, aber für den Kampf gegen Kowaljow war es ungünstig. Wenn Pawlow merkte, dass die Lebedewa sich für Rudnik interessierte, würde er nervös werden, und das durfte er auf keinen Fall. Aber nur, wenn Rudnik der Nämliche war . . . Wenn sie Rudnik in Ruhe ließe, dann mussten sie eine andere Quelle finden, die ihnen Informationen über Kowaljow geben konnte, und das brauchte Zeit. Also musste sie gegenüber Pawlow mit offenen Karten spielen.
»Schon fertig?« Pawlow verhehlte nicht seine Begeisterung, als er den Text des Interviews durchblätterte. »Sie arbeiten sehr schnell, Larissa. Eine schöne Frau sollte sich schonen«, setzte er viel sagend hinzu.
»Ich kann mich nicht schonen. Um Geld zu verdienen, muss man schnell sein.«
Pawlow hatte den Eindruck, das habe kühl und gereizt geklungen. Überhaupt war Larissa heute anders, irgendwie missmutig, und sah dauernd besorgt zur Uhr. Als wolle sie jeden Moment aufspringen und gehen. Aber so leicht gab Pawlow nicht auf. Er erinnerte sich nur zu gut daran, wie sie noch vor zwei Tagen gewesen war, am Samstag. Nein, in dieser Stimmung ließ er sie nicht gehen.
»Was ist mit Ihnen, Larissa?«, fragte er sanft. »Was macht Ihnen Sorgen?«
Sie überhörte die Frage.
»Lesen Sie bitte den Text, Alexander Jewgenjewitsch. Wenn Sie damit einverstanden sind, bringen wir ihn in der Ausgabe, die in zwei Wochen erscheint.«
»Und wenn ich Einwände habe? Überarbeiten Sie den Text dann und kommen wieder zu mir? Oder geben Sie das Vorhaben dann auf?«
Sie rauchte schweigend, und ihre ganze Haltung verriet Ungeduld. Pawlow stand auf, ging zu dem Beistelltisch, an dem Larissa saß, rückte sich einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. Er nahm zärtlich ihre Hand und sagte leise:
»Larissa, Sie müssen verstehen, ich will nicht, dass unsere heutige Begegnung die letzte ist. Aber meine Wünsche sind nicht ausschlaggebend, Sie treffen die Entscheidung. Und wenn Ihre Entscheidung so aussieht, dass wir uns nicht wieder sehen werden, dann kann ich nicht zulassen, dass wir so auseinander gehen, kühl, sachlich und unzufrieden miteinander. Geben Sie zu, wir haben keinen Grund, einander böse zu sein.«
Ohne ihm die Hand zu entziehen, hob Larissa ihre dunklen Augen und lachte bitter.
»Ich wollte, Sie hätten Recht. Aber das stimmt leider nicht.«
»Was stimmt nicht?«
»Nicht ich treffe die Entscheidung. Sie wird mir aufgezwungen, und zwar unter Bedingungen, denen ich mich fügen muss.«
Pawlow begriff: Gleich würde sie ihm alles erzählen, ihn in ihre Unannehmlichkeiten einweihen, und dann würde das Gespräch intimer werden und Larissa weicher. Er überlegte rasch, was besser war: sitzen zu bleiben und ihre Hand zu halten oder ihr einen Kaffee anzubieten. Er führte behutsam ihre Hand an seine Lippen und küsste sie.
»Ich mache Ihnen einen Kaffee, und Sie erzählen mir, wie man Ihnen Bedingungen stellen kann, denen Sie sich fügen müssen. Vielleicht kann ich ja etwas dabei lernen.« Er lächelte verschmitzt.
Er erfuhr Folgendes: Larissa hatte den Auftrag bekommen, über den Kampf im Parlament im Vorfeld der Plenartagung zu schreiben, wobei man ihr deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass sie die Akzente zugunsten des jetzigen Premierministers zu setzen und gegen seinen Konkurrenten scharf zu polemisieren habe. Doch sie sei ein unabhängiger Mensch und könne solche Aufträge nicht ausstehen, sie sei gewohnt, so zu schreiben, wie sie denke. Das zum Ersten. Und zum Zweiten habe sie zu lange im Ausland gelebt, sei erst seit kurzem in Russland, kenne niemanden in Parlamentskreisen und habe keine Ahnung, wie sie an
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