Anastasija 06 - Widrige Umstände
Zu diesem Zeitpunkt hat sie sie tief in ihrem Innern begraben.
Es vergehen vier Jahre, ihr Chef rät ihr immer drängender zur Habilitation, damit sie den Anforderungen an ihre Stelle als leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin genügt. Die Filatowa überlegt, ob sie vielleicht die Dissertation von damals verwenden kann. Vielleicht hat der Auftraggeber das Promotionsverfahren ja nicht abgeschlossen? Vielleicht hat er es sich anders überlegt, oder der Text gefiel ihm nicht oder was auch immer. Wenn die Dissertation nicht verteidigt wurde, kann sie das Manuskript benutzen. Sie wendet sich an ihren Doktoranden, und der beschafft ihr die Antwort: Die Dissertation wurde siebenundachtzig verteidigt, der Autor ist Alexander Jewgenjewitsch Pawlow aus Ensk. Sie erkundigt sich nach ihm und erfährt, wo er arbeitet. Die Kränkung kommt wieder hoch, dazu addieren sich das gescheiterte Privatleben und die verächtliche Haltung der leitenden Verwaltungsfunktionäre gegenüber der Wissenschaft. Die verschlossene, arbeitsame, hilfsbereite Irina Filatowa empfindet für Pawlow einen so glühenden Hass, wie man ihn ihr kaum zugetraut hätte. Sie vermutet, dass der Mann, der sie um zehntausend Rubel betrogen hat, garantiert auch in seinem Job unehrlich ist. Als erfahrene Analytikerin macht sie sich auf die Suche. Aber sie sucht nicht bloß kompromittierendes Material gegen Pawlow, sie will ihn nicht erpressen und ihm nichts beweisen. Sie sucht etwas, um ihn tödlich zu erschrecken, oder noch besser, ihn als Person zu vernichten, dafür zu sorgen, dass er in ständiger Angst vor drohenden Unannehmlichkeiten schwebt. Und sie findet etwas. Sie findet die Namen von Leuten, die es Pawlow nicht verzeihen würden, wenn durch einen Skandal um ihn auch ihre früheren Sünden ans Licht kämen. Und dieser Skandal ist unausweichlich, wenn sie ihr Buch veröffentlicht und sich auch nur eine Person findet, die es mit Pawlows Dissertation vergleicht. Also setzt sie das Buch auf den Publikationsplan des Instituts.
Inzwischen ist Pawlow in Moskau, arbeitet im Stab des Russischen Innenministeriums. Als Irina davon erfährt, ist sie sich noch nicht sicher – der Name ist relativ häufig, und sie hat Pawlow noch nie gesehen. Sie checkt ihn ab, denkt über ihn nach, schreibt sich sogar seine Dienstnummer auf. Aber persönlich lernen sie sich erst später kennen, im Winter. Der Chef der Filatowa erinnert sich, dass er die beiden in seinem Büro einander vorgestellt hat, den neuen Hauptsachverständigen und dessen wichtigste Mitarbeiterin. Pawlow begreift, wen er vor sich hat. Eine Zeit lang lässt Irina ihn sich in Sicherheit wiegen,, dann gibt sie ihm zu verstehen, dass sie in ihm ihren Auftraggeber erkannt hat. Das war vermutlich im März, denn um diese Zeit begannen Pawlows regelmäßige Besuche im Institut ›mit Blumen und Geschenken‹, wie die Semjonowa aussagt. Es ist anzunehmen, dass er von Irinas Vorhaben erfahren und versucht hat, sie sozusagen im Guten davon abzubringen. Als er sich überzeugt hat, dass das nicht klappt, schlägt er einen härteren Ton an. Mitte April beginnt die Schikane mit dem ständigen Überarbeiten von Dokumenten, er zitiert sie dauernd ins Ministerium. In Wirklichkeit nutzt er nur jeden Vorwand, sich mit der Filatowa zu treffen, um sie zu überreden – mit Geld, Drohungen oder wie auch immer; er will sie mürbe machen. Die Semjonowa behauptet, Irina habe nicht Nein sagen können, sei sehr weich und nachgiebig gewesen. Gott allein weiß, was es sie gekostet hat, Pawlow zu widerstehen. Von diesen Gesprächen kommt sie immer nervös und niedergeschlagen zurück. Die Kränkung saß wohl sehr tief. Betrug konnte sie nie verzeihen.
Aber Irina hat irgendetwas nicht bedacht, sich irgendwie verrechnet, denn Pawlow erschrak vor dem potenziellen Skandal heftiger, als sie vermutet hatte. So heftig, dass er um sein Leben fürchtete. Es gibt bei dieser Geschichte etwas, das Irina nicht wusste, nicht wissen konnte, und Pawlow durfte es ihr nicht sagen. Und das war der Grund für ihren Tod.
Als Pawlow in unser Blickfeld geriet, hat er uns die Hucke voll gelogen von wegen Liebe und dass er Irina schon lange kennt. Wozu? Alle vorhandenen Exemplare des Manuskripts waren verschwunden, bestimmt nicht ohne seine Hilfe. Vom vierten Exemplar ahnte er nichts. Niemand hätte je Irina mit seiner Dissertation in Verbindung gebracht. Ich kann nur mutmaßen, dass der Vermittler der springende Punkt ist. Pawlow misstraut ihm. Er hat keinerlei
Weitere Kostenlose Bücher