Anastasija 06 - Widrige Umstände
habe ich gemerkt, dass er das missbilligte. Aber wer ist er denn, dass er mein Handeln missbilligt? Er wurde bei mir im Gebiet mit Gold erwischt, ich konnte ihn nur mit Mühe loseisen. Er steht für immer in meiner Schuld. Es war richtig, dass ich damals kein Geld von ihm genommen habe – als hätte ich geahnt, dass ich ihn noch gebrauchen könnte. Ich traue ihm nicht, o nein, ich traue ihm nicht, aber ich habe keine Wahl, ich habe sonst niemanden, auf den ich mich stützen kann. Boris zählt nicht, auf den muss man aufpassen wie ein Schießhund. Es ist schwierig, wenn man von lauter Fremden umgeben ist. In meinem Gebiet kannte mich jedes Kind, da konnte ich jedes Problem am Telefon klären. Aber hier . . . Was wollte ich nur in Moskau? Warum habe ich eingewilligt? Idiot. Aber hat mich denn jemand gefragt? Ich habe eingewilligt, weil er es verlangt hat.
Boris Rudnik leistete keinen ernsthaften Widerstand. Nastja konnte sich nicht genug darüber wundern, wie glatt alles lief, wie rasch er beim geringsten Druck alles auspackte, was sie hören wollte. Vermutlich hatte Pawlow ihn noch einmal angerufen und ihn entsprechend vorbereitet. Gordejew hatte sie zwar vorgewarnt, dass Rudnik nervös sei, aber das reale Bild übertraf alle Erwartungen. Er war mehr als nervös, mehr als bedrückt. Auf dem Heimweg versuchte Nastja Worte zu finden, die seinen Zustand exakter beschrieben. Niedergeschlagen ja, deprimiert – ja, aber auch das traf es nicht ganz. Sie dachte an die Zeilen: ». . . wenn hoffnungslos, als wär’s der Weg zur Richtstatt, das Morgen scheint, so unnütz, kalt und leer.« Das kam der Sache schon näher. Genau, das waren die richtigen Worte. Rudnik war jemand, der auf den Ausgang wartete, aber nicht voller Neugier, wie bei einem spannenden Krimi. Er kannte das Ende und erwartete es ergeben. Er hatte kein Interesse mehr am Leben, weil er wusste, dass sein Leben jeden Augenblick zu Ende sein würde. Er hatte keine Hoffnung mehr. Die pure Trostlosigkeit, ausweglos und abstumpfend, die jeden Widerstand lähmte. Nastja hatte den Eindruck, wenn sie ihn jetzt nach Ensk fragte, würde er ihr auch darüber alles erzählen. Aber sie fragte nicht danach. Erstens hatte Gordejew ihr streng verboten, Ensk zu erwähnen, um Pawlow nicht aufzuschrecken. Und zweitens war ihr auch so klar, dass Rudnik der Mann mit dem Paragraphen hundertzwanzig war.
Nastja wurde mit jedem Tag klarer, was ihr Stiefvater mit seiner Warnung gemeint hatte, der Kreis sei sehr eng. Es ging nicht nur darum, dass man ständig auf Bekannte stieß. Eine noch größere Schwierigkeit bestand darin, dass die Informationsquellen begrenzt waren. Wäre Pawlow nicht beim Ministerium, hätte er nicht bei den Justizorganen gedient -würden sie sich dann jetzt mit einem Mangel an nötigen Informationen abplagen und die Lücken mit Hypothesen und Vermutungen füllen müssen? Was die Filatowa herausgefunden hatte, hätten sie auch herausgefunden. Wahrscheinlich besaß sie außer der Liste von Namen noch weitere Informationen, aber da sie selbst nicht in Ensk gewesen war, musste jemand anders ihr die beschafft haben. Wieder einer aus dem eigenen Kreis, der dort auf einer Dienstreise war, vielleicht sogar als Mitglied einer Inspektionsgruppe. Im Ministerium zu erfragen, ob eine solche Inspektion stattgefunden hatte, um die Liste der Teilnehmer zu bitten und zu klären, ob ein Bekannter der Filatowa darunter war, würde rund zwei Stunden dauern. Aber noch bevor die zwei Stunden um waren, würde Pawlow davon erfahren. Inspektionsreisen fielen in das Ressort seines Stabs.
Genug geträumt, rief Nastja sich zur Ordnung, was wäre, wenn . . . Wie sagt Gordejew? Halten wir uns an das, was wir haben. Versuchen wir, die Kette zu rekonstruieren.
Zu Hause wusch sie Larissa Lebedewa von sich ab, ohne dabei das Nachdenken zu unterbrechen. Gestern war sie dabei stehen geblieben, dass Pawlow vor irgendetwas tödliche Angst hatte. Oder vor irgendjemandem. Und die Filatowa hatte das geahnt. Machen wir also da weiter. Pawlow fürchtet nicht Rudnik, das ist offenkundig. Genauso offenkundig ist, dass Rudnik mit dem Mord zu tun hat und ergeben auf seine Überführung wartet. Wenn es jemanden gibt, der noch gefährlicher und folglich noch mächtiger ist, warum hat Pawlow sich dann mit Rudnik eingelassen, um die Filatowa aus dem Weg zu räumen, statt mit dem mächtigen Unbekannten? Die Antwort war so einfach, dass Nastja lächeln musste.
Viktor Gordejew löste sich von den Papieren, die
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