Anastasija 06 - Widrige Umstände
Glied: Boris Wassiljewitsch Rudnik. Wir vermuten, dass Pawlow den Mord an der Filatowa mit seiner Hilfe organisiert hat. Wenn die Geschichte sich wiederholt und Pawlow erneut über Rudnik Kontakt mit dem Mörder aufzunehmen versucht, dann bricht unser Plan zusammen. Rudnik ist nervös, reagiert, wie die Psychiater sagen, nicht adäquat. Sollte er die Kette aktivieren, würde sofort das Sicherheitssystem anspringen. Er würde an den Killer nicht rankommen. Für uns ist wichtig, dass Pawlow sich nicht an Rudnik wendet. Aber das können wir nicht kontrollieren. Bleibt nur zu hoffen, dass Pawlow genauso denkt wie wir. Dass er es nicht riskieren wird, Rudnik durch einen zweiten Mord zu beunruhigen.«
Die Sitzung dauerte noch anderthalb Stunden. Als Gordejew seine Mitarbeiter entlassen hatte, überdachte er noch einmal alle Details. Wie es aussah, war alles getan, was möglich war, nichts außer Acht gelassen. Aber das Risiko war groß, sehr groß. Die ganze Operation beruhte auf Vermutungen, auf der Analyse der Kamenskaja. Sie hatte natürlich ein helles Köpfchen, aber ein Irrtum war trotzdem nicht auszuschließen.
Er dachte an Pawlows kürzlichen Besuch. Damals war der Plan gerade erst im Entstehen, es war noch nichts klar, aber Gordejew hatte bereits den ersten Schritt getan, indem er Pawlow erzählte, es habe sich ein Zeuge gefunden, der den Mörder aus dem Haus der Filatowa kommen sah, sie hätten jetzt also eine Täterbeschreibung. Das musste funktionieren, wenn sie alles richtig berechnet hätten. Wenn . . . Und wenn nicht?
Gordejew setzte sich ans Telefon. In Gedanken machte er sich Vorwürfe, dass er die Freundschaft des Mannes ausnutzte, der ihm half, »Wahrheit und Tatsachen auseinander zu halten«. Seit dem Mord an der Filatowa rief er ihn nun schon zum dritten Mal an, während er sich sonst oft monatelang nicht bei ihm meldete. Das war nicht schön.
»Wie geht’s, Stepan Ignatjewitsch?«, frage er munter, als am anderen Ende abgehoben wurde.
»Dich hat’s offenbar heftig erwischt, Viktor.« Ein knarrendes Greisenlachen tönte aus dem Hörer. »Lässt einen nicht in Ruhe sterben. Ist wieder was passiert?«
»Gott behüte, Stepan Ignatjewitsch, es ist nichts passiert, ich wollte Sie einfach mal besuchen«, log Gordejew und spürte entsetzt, dass er errötete.
»Wolltest du mich per Telefon besuchen oder dich auf eine Tasse Tee einladen?«, erkundigte sich Stepan Ignatjewitsch spöttisch.
»Auf einen Tee, wenn Sie mir einen anbieten.«
»Einen Tee? Einen Tee kann ich dir anbieten, warum nicht. Also, soll ich gleich das Teewasser aufsetzen, oder kommst du ein andermal?«
»Setzten Sie es auf«, sagte Gordejew nach einem Blick auf die Uhr entschlossen. »Ich komme gleich.«
Stepan Ignatjewitsch Golubowitsch war Gordejews Lehrer und Schutzengel gewesen. Er war jetzt fast achtzig, sein Herz machte ihm ziemliche Probleme, manchmal versagten auch die Beine, und die Hände zitterten. Er lebte allein, in einem gemütlichen Zimmer einer riesigen Gemeinschaftswohnung, wie es sie im Zentrum Moskaus noch gab. Golubowitsch hatte fürsorgliche Kinder, respektvolle Schwiegersöhne und -töchter und liebende Enkel, aber der Alte war nicht dazu zu bewegen, zu ihnen zu ziehen, obwohl sie ihn beharrlich darum baten. Verständlich, denn die Kinder lebten mit ihren Familien weit entfernt vom Stadtzentrum, hatten nicht die Zeit, ihn häufig zu besuchen, und wenn sie nur selten kamen, regte sich ihr Gewissen. Außerdem sorgten sie sich um ihn, denn sie liebten ihn wirklich. Golubowitsch hatte einen durchaus verträglichen Charakter, und würde er zu seinem Sohn oder einer der Töchter ziehen, würden alle aufatmen. Aber er blieb unbeugsam.
»Ich kann mich an eure Ordnung nicht mehr gewöhnen«, sagte er, »und ihr würdet mich stören.«
Wobei die Kinder und Enkel ihn stören würden, wusste niemand, und Golubowitsch erklärte es nie.
Auf dem Weg zu Golubowitsch kaufte Gordejew an einem Kiosk ein paar Schokoriegel. Er wusste, womit er dem knurrigen Alten eine Freude machen konnte, der sich zwar einen klaren Verstand und ein gutes Gedächtnis bewahrt hatte, in seinen kulinarischen Vorlieben aber in die Kindheit zurückgefallen war.
Während Gordejew gemächlich durch die von der Junisonne aufgeheizten Straßen lief, dankte er im Stillen dem Schicksal, dass es diesen Stepan Ignatjewitsch gab, der nicht nur alles Mögliche wusste, sondern auch sagen konnte, wo man Informationen herbekam, die er selbst nicht besaß. Auf
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