Anastasija 06 - Widrige Umstände
Miliz einen Verdacht gegen ihn, und die Tote hatte irgendwie mit ihm zu tun? Ja, vermutlich war es so. Aber warum gab er ihm dann erneut einen Auftrag, nach weniger als einem Monat? War er etwa verrückt? Einen Vollstrecker in eine Stadt zu bestellen, in der eine Ermittlung wegen eines von ihm begangenen Mordes lief, war mehr als leichtsinnig. Mehr noch, der neue Auftrag hing offenkundig mit dem alten zusammen, da es um dasselbe Manuskript ging. In der Wohnung war das Manuskript nicht gewesen, dafür konnte er sich verbürgen. Auch die Karteikarten, die er suchen sollte, waren dort nicht. Dafür aber etwas anderes . . .
Am Morgen fuhr der Gallier zur Metrostation »Krasnyje Worota« und entdeckte im Park auf Anhieb den Mann mit dem Bullterrier, ging aber trotzdem nicht gleich wieder. Er folgte ihm in gebührendem Abstand bis zu seinem Haus und begleitete ihn einige Minuten später zur Arbeit. Und obgleich er den Auftrag das letzte Mal von einem anderen bekommen hatte, war der Gallier sich sicher: Der eigentliche Auftraggeber war in beiden Fällen dieser gepflegte, gut gekleidete Mann, der selbstbewusst die Stufen hinauflief, seinen Dienstausweis vorwies und im Innenministerium verschwand. Das war unangenehm. Aber der schlimmste Schlag stand ihm noch bevor.
Der Gallier überlegte eine Weile und beschloss, den Notfallkontakt zu benutzen. Er hatte nicht das Recht, die Sache eigenmächtig abzubrechen und Moskau zu verlassen. Doch dass er diesen Auftrag auf keinen Fall ausführen durfte, stand für ihn fest.
Der Notfallkontakt war kompliziert, funktionierte aber schnell, und bereits nach anderthalb Stunden sprach der Gallier mit dem Mann, der ihm erlauben musste abzureisen. Aber alles lief ganz anders.
»Der Auftrag muss erledigt werden«, lautete die kühle Antwort. »Du hast zu viele Fehler gemacht, das musst du ausbügeln. Vorher rührst du dich keinen Schritt weg aus Moskau. Für schlechte Arbeit muss man zahlen. Und halt deine Zunge im Zaum. Wenn du alles sauber erledigt hast, tauchst du unter. Wenn nicht, weißt du, was dich erwartet. Das ist dein Problem.«
Sein Problem . . . Da saß er nun zwischen zwei Stühlen. Einerseits ein Auftrag, der schief gehen musste. Andererseits – das System verweigerte ihm Schutz und Hilfe. Warum? Wurde er nicht mehr gebraucht? Unsinn, solche wie er wurden immer gebraucht. Solche wie ihn gab es viel zu selten, als dass man ihn einfach aus dem Weg räumen konnte. Woran also lag es? Sie glaubten, er sei am Ende, mache Fehler und werde darum von den Bullen gesucht. Woher hatten sie das? Es konnte doch nicht sein, dass sie ins selbe Horn bliesen wie dieser hysterische Auftraggeber, dass sie nach seiner Pfeife tanzten. Und wenn doch? Er arbeitete im Innenministerium, er war informiert. Also stimmte möglicherweise alles. Das hieß, dieses Schwein benutzte seine Dienste, um ihn anschließend mit Dreck zu bewerfen, anstatt zu versuchen, ihm zu helfen.
Und sie? Fast zwanzig Jahre arbeitete er schon für sie, ohne eine einzige Panne, er hatte einen tadellosen Ruf. Er hielt sich eisern an alle ihre Bedingungen: keine Familie, keine ständige Geliebte, keine engen Freunde. Kein Kontakt zu Angehörigen. Und auch keine der vielen sonstigen Einschränkungen hatte er je verletzt. Und das war nun der Dank dafür: Kaum lief mal etwas schief – hau ab, sieh zu, wie du da rauskommst. Klar, er würde sie nicht bei den Bullen verpfeifen, dann müsste er sich ja selbst stellen, und allein die Geschichte mit der Filatowa reichte für die Höchststrafe; sie war schließlich bei der Miliz gewesen. Außerdem konnte er sowieso nichts beweisen, er hatte nichts in der Hand, nur Worte.
Na schön, dachte der Gallier, dann wollen wir mal unsere Fehler ausbügeln.
Vom aufdringlichen Dröhnen der Musik und der stickigen Luft war Nastja einer Ohnmacht nahe. Komisch, dachte sie, ich merke überhaupt nicht, dass ich beobachtet werde. Dabei hört man doch immer von den bohrenden Blicken, die man im Rücken spürt, die einem die Haut versengen. Wahrscheinlich bin ich einfach noch zu unerfahren, entschied sie, oder unsensibel.
Als sie keine Kraft mehr hatte, gegen die stickige Luft anzukämpfen, nahm sie ihre Tasche, entschuldigte sich und ging zur Toilette. Pawlow erschrak im ersten Moment, er befürchtete, sie würde einfach verschwinden, aber dann sagte er sich, dass es keinen Grund zur Beunruhigung mehr gebe. Er hatte die Erpresserin an den Gallier übergeben, und dem würde sie nicht entwischen.
Auf der
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