Anathem: Roman
nicht das da, sondern die erstarrten Buchstaben, mit denen man Orth schreibt.« Er nickte zu meinem Blatt hinüber, das sich allmählich mit genau dieser Art von Schrift verdunkelte.
»Ja.«
»Ich könnte, wenn ich müsste, weil meine Eltern es mich haben lernen lassen. Aber ich tue es nicht, weil ich nie muss«, sagte Quin. »Bei meinem Sohn dagegen ist es anders.«
»Hat sein Vater es ihn lernen lassen?«, warf Orolo ein.
Quin lächelte. »Ja.«
»Liest er Bücher?«
»Ständig.«
»Sein Alter?« Das stand offensichtlich nicht auf dem Fragebogen.
»Elf. Und er ist noch nicht auf dem Scheiterhaufen gelandet.« Das sagte Quin sehr ernst. Ich fragte mich, ob Fraa Orolo verstand, dass Quin einen Scherz machte – ihn auf die Schippe nahm. Das gab er jedenfalls nicht zu erkennen.
»Habt ihr Kriminelle?«
»Natürlich.« Doch allein die Tatsache, dass Quin auf diese Weise reagierte, veranlasste Orolo, zu einem neuen Blatt des Fragebogens zu springen.
»Woher wisst ihr das?«
»Was?!«
»Du sagst, natürlich gibt es Kriminelle, aber woher wisst ihr, wenn ihr eine bestimmte Person anschaut, ob sie kriminell ist oder nicht? Sind Kriminelle gebrandmarkt? Tätowiert? Eingesperrt? Wer entscheidet darüber, wer ein Krimineller ist und wer nicht? Sagt eine Frau mit rasierten Augenbrauen: ›Du bist ein Krimineller‹ und läutet eine silberne Glocke? Oder ist es eher ein Mann mit Perücke, der mit einem Hammer auf einen Holzblock schlägt? Schiebt ihr den Angeklagten durch einen schwimmreifenförmigen Magneten? Oder benutzt ihr eine Wünschelrute, die zuckt, wenn sie in die Nähe des Bösen gebracht wird? Reicht ein Herrscher die in zinnoberroter Tinte geschriebene und mit schwarzem Wachs versiegelte Entscheidung
von seinem Thron herunter, oder ist es eher so, dass der Angeklagte barfuß über einen Bratrost gehen muss? Vielleicht gibt es eine allgegenwärtige Praxik bewegter Bilder – was du Spulocorder nennen würdest -, die alles weiß, deren Geheimnisse aber nur durch ein Eunuchengericht entschlüsselt werden können, dessen Mitglieder sich jeweils einen Teil einer langen Nummer gemerkt haben. Oder vielleicht taucht auch ein Haufen Gesindel auf und bewirft den Verdächtigen mit Steinen, bis er tot ist.«
»Ich kann dich nicht ernst nehmen«, sagte Quin. »Du bist doch erst seit, was, dreißig Jahren in dem Konzent?«
Fraa Orolo warf mir einen Blick zu und seufzte. »Neunundzwanzig Jahre, elf Monate, drei Wochen und sechs Tage.«
»Und es ist ganz offensichtlich, dass du für die Apert büffelst – aber du kannst doch nicht im Ernst glauben, dass die Dinge sich so sehr verändert haben!«
Wieder ein Blick in meine Richtung. »Handwerker Quin«, sagte Fraa Orolo, nachdem er eine Pause gemacht hatte, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, »es ist das Jahr 3689 nach der Rekonstitution.«
»Das sagt mein Kalender auch«, bestätigte Quin.
»Morgen ist 3690. Nicht nur der Math der Unarier, nein, auch wir Dezenarier werden die Apert begehen. Gemäß den alten Regeln werden sich unsere Tore öffnen. Zehn Tage lang wird es uns erlaubt sein hinauszugehen, und Besucher wie du werden hereinkommen können. Nun, in zehn Jahren wird sich das Zentenariertor zum ersten und vermutlich auch letzten Mal in meinem Leben öffnen.«
»Und auf welcher Seite wirst du sein, wenn es sich schließt?«, fragte Quin.
Wieder wurde ich verlegen, da ich es nie wagen würde, eine solche Frage zu stellen. Insgeheim war ich jedoch hocherfreut, dass Quin es für mich getan hatte.
»Falls man mich dessen für würdig erachtet, möchte ich sehr gerne auf der inneren Seite sein«, sagte Fraa Orolo, worauf er mir einen amüsierten Blick zuwarf, als hätte er meine Gedanken erraten. »Es ist so, dass ich in ungefähr neun Jahren damit rechnen kann, in das obere Labyrinth bestellt zu werden, das meinen Math von dem der Zentenarier trennt. Dort werde ich meinen Weg zu einem Gitter in einem dunklen Raum finden, und auf der anderen Seite dieses Gitters
wird einer jener Hunderter sein (falls sie bis dahin nicht alle gestorben, verschwunden oder zu etwas anderem geworden sind) und mir Fragen stellen, die mir genauso seltsam erscheinen werden wie meine dir. Sie müssen sich nämlich genauso auf ihre Apert vorbereiten wie wir auf unsere. In ihren Büchern haben sie Aufzeichnungen aller gerichtlichen Verfahren, von denen sie und andere in ihren Konzenten in den letzten rund dreitausendsiebenhundert Jahren gehört haben. Die Liste, die ich dir
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