Anathem: Roman
diese Weise anschaut, gehört es sich nicht, so zurückzustarren, wie du es gerade tust.«
»Ach so, ist das eine Art soziale Dominanzgeste?«
»Ja. In eine vertrauliche Besprechung am Arbeitsplatz von jemandem hineinzuplatzen, ist ebenfalls verboten.«
»Wo ich nun schon die Aufmerksamkeit deines Chefs habe, sollte ich ihm vielleicht mitteilen, dass …«
»Du hier für mittags ein großes Treffen einberufen hast?«
»Ja.«
»Oder, wie er es sehen würde, du – ein völlig Fremder – hast, ohne ihn vorher zu fragen, einen Haufen andere völlig Fremde eingeladen, sich auf seinem Grund und Boden – einem Industriebetrieb mit vielen gefährlichen Maschinen – zu versammeln.«
»Also, das ist wirklich wichtig, Cord. Und es wird nicht lange dauern. Ist das der Grund für eure Besprechung?«
»Das war der erste Tagesordnungspunkt.«
»Glaubst du, er wird mich körperlich angreifen? Ich kenne nämlich ein paar Thadegriffe. Nicht so viele wie Lio, aber …«
»Das wäre eine ungewöhnliche Vorgehensweise. Hier draußen gäbe es eher einen Rechtsstreit. Aber ihr Typen habt euer eigenes Gesetz, sodass er dich nicht belangen kann. Und wie es aussieht, üben die da oben Druck auf ihn aus, es geschehen zu lassen. Wegen einer Entschädigung wird er dann mit ihnen verhandeln. Er verhandelt auch mit der Versicherungsgesellschaft, damit nichts von alldem seine Police ungültig macht.«
»Mannomann. Hier sind die Dinge ganz schön kompliziert.«
Cord schaute in Richtung Praesidium und zog die Nase hoch. »Und da drin … sind sie es nicht?«
Darüber dachte ich eine Weile nach. »Vermutlich wirkt mein Verschwinden in der Zehnten Nacht auf dich genauso sonderbar wie die Versicherungspolice deines Chefs auf mich.«
»Genau.«
»Also, es war nicht persönlich. Und es hat mir sehr wehgetan. Vielleicht so sehr, wie dieser Schlamassel hier dir wehtut.«
»Das ist unwahrscheinlich«, sagte Cord. »Zehn Sekunden bevor du hier reinspaziert kamst, wurde ich nämlich gefeuert.«
»Das ist ein ganz und gar irrationales Verhalten!«, protestierte ich. »Selbst für Extramurosverhältnisse.«
»Ja und nein. Ja, es ist verrückt, dass ich wegen einer Entscheidung gefeuert werde, die du ohne mein Wissen getroffen hast. Und nein, auf eine Weise auch wieder nicht, weil ich hier eine Kuriosität bin. Ich bin ein Mädchen. Ich benutze die Maschinen, um Schmuck herzustellen. Ich mache Teile für die Ita und werde in Honiggläsern bezahlt.«
»Also, es tut mir wirklich leid …«
»Hör einfach auf«, schlug sie vor.
»Wenn ich irgendetwas tun kann – wenn du gerne in den Math eintreten würdest …«
»Den Math, aus dem du gerade rausgeworfen wurdest?«
»Ich meine ja bloß, wenn ich irgendetwas tun kann, um es wiedergutzumachen …«
»Verschaff mir ein Abenteuer.«
Im nächsten Augenblick wurde Cord bewusst, dass das sonderbar klang, und sie verlor die Nerven. Mit erhobenen Händen sagte sie: »Ich spreche nicht von einem gewaltigen Abenteuer. Einfach etwas, gegen das ein Rausschmiss klein erscheint. Etwas, woran ich mich erinnern könnte, wenn ich alt bin.«
Jetzt erst ließ ich alles, was in den vergangenen zwölf Stunden geschehen war, noch einmal Revue passieren. Das machte mich etwas benommen.
»Raz?«, sagte sie nach einer Weile.
»Ich kann die Zukunft nicht voraussagen«, erklärte ich, »aber aufgrund des wenigen, was ich bisher weiß, fürchte ich, dass es ein gewaltiges Abenteuer oder gar nichts werden muss.«
»Super!«
»Vermutlich die Art von Abenteuer, die in einem Massenbegräbnis endet.«
Das dämpfte sie ein wenig. Doch etwas später sagte sie: »Braucht ihr Transportmittel? Werkzeuge? Material?«
»Unser Gegner ist ein mit Atombomben gespicktes außerarbrisches Raumschiff«, sagte ich. »Wir haben einen Winkelmesser.«
»Gut, ich gehe nach Hause und schaue nach, ob ich ein Lineal und ein Stück Faden auftreiben kann.«
»Das wäre prima.«
»Wir treffen uns heute Mittag hier. Das heißt, wenn sie mich überhaupt wieder reinlassen.«
»Ich sorge dafür, dass sie das tun. He, Cord …«
»Ja?«
»Das ist vermutlich nicht der richtige Zeitpunkt dafür … aber könntest du mir einen Gefallen tun?«
Im Schatten des großen Dachs über dem Kanal setzte ich mich auf einen Stapel Holzpaletten, holte die Kartabla hervor und versuchte herauszufinden, wie man mit ihrer Benutzeroberfläche umging. Das dauerte länger, als ich erwartet hatte, denn sie war nicht für Leute gemacht, die lesen und
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