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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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konnte nicht barfuß hinausgehen. Meine Schuhe standen unter einer Bank in der Nähe der Planetenmaschine. Fraa Jad hatte sich auf dieser Bank niedergelassen. Direkt über meinen Schuhen. Sein Kopf war gebeugt. Die Hände lagen gefaltet in seinem Schoß. Er musste in eine Art tiefer Tausendermeditation versunken sein. Wenn ich ihn störte, um meine Schuhe zu holen, würde er mich in einen Molch oder so etwas verwandeln.
    Auch sonst wollte ihn niemand stören. Jeweils mit Hundertern im Schlepptau gingen erst Tulia, dann Arsibalt los. Jetzt waren nur noch drei Evozierte übrig: Barb, Jad und ich. Jad steckte immer noch in Kulle und Kord.
    Barb steuerte auf Fraa Jad zu. Ich rannte los und holte ihn kurz vor der Bank ein.
    »Fraa Jad muss sich umziehen«, verkündete Barb, ein Satz, der sein Anfängerorth bis zum Zerreißen strapazierte.
    Fraa Jad blickte auf. Bis jetzt war ich der Meinung gewesen, er hätte die Hände im Schoß gefaltet. Jetzt sah ich, dass er einen Einwegrasierer, noch in seiner farbenfrohen Verpackung, in der Hand hielt. Ich hatte genau denselben in meiner Tasche. Es war eine gängige Marke. Fraa Jad las gerade das Etikett. Die großen Schriftzeichen waren Kinagramme, die er vermutlich noch nie gesehen hatte, aber das Kleingedruckte war in dem Alphabet geschrieben, das wir auch benutzten.
    »Auf welchem Prinzip beruhen die Fähigkeiten, die dieses Dokument dem Dynogleit-Feuchtstreifen zuschreibt?«, fragte er. »Ist er von Dauer oder nutzt er sich ab?«
    »Er nutzt sich ab«, antwortete ich.
    »Dass du das liest, ist eine Verletzung der Regel!«, beschwerte sich Barb.
    »Halt den Mund«, sagte Fraa Jad.
    »Ich möchte in keiner Weise respektlos sein«, versuchte ich es nach einer ziemlich peinlichen, längeren Pause, »aber …«
    »Ist es Zeit zu gehen?«, fragte Fraa Jad und warf einen prüfenden Blick auf die Planetenmaschine, als wäre sie eine Armbanduhr.

    »Ja.«
    Fraa Jad stand auf und zog sich in derselben Bewegung die Kulle über den Kopf. Einige der Hierarchen rangen nach Luft und drehten ihm den Rücken zu. Zunächst passierte gar nichts. Ich wühlte in seiner Einkaufstüte und fand eine Unterhose, die ich ihm reichte.
    »Muss ich dir das erklären?«, fragte ich, auf den Hosenschlitz deutend.
    Fraa Jad nahm das Kleidungsstück entgegen und fand selbst heraus, wie der Hosenschlitz funktionierte. »Topologie ist Schicksal«, sagte er und zog sich im Stehen die Unterhose an. Sein Alter war schwer zu schätzen. Er hatte zerknitterte, fleckige Haut, konnte aber, während er in die Unterhose schlüpfte, hervorragend erst auf dem einen, dann auf dem anderen Bein stehen.
    Bis Fraa Jad landfein gemacht worden war, gab es keine bemerkenswerten Zwischenfälle. Ich zog meine Schuhe hervor und versuchte noch einmal mich zu erinnern, wie man sie band. Währenddessen befolgte Barb, wie es schien, erstaunlich zufrieden den Befehl, den Mund zu halten. Ich fragte mich, warum ich nie zu dieser simplen Taktik gegriffen hatte.
     
    In unseren Schuhen stolpernd und schlurfend und unsere Hosen immer wieder hochziehend, gingen wir zum Tagestor hinaus. Der Platz war leer. Wir überquerten den Fahrdamm zwischen den Zwillingsfontänen und betraten die Stadt der Burgher. Hier hatte ein alter Markt gestanden, doch als ich ungefähr sechs gewesen war, hatten die Behörden ihn in Aldermarkt umgetauft, ihn zerstört und einen neuen Markt gebaut, auf dem T-Shirts und andere Objekte mit Bildern des alten Marktes feilgeboten wurden. Inzwischen waren die Leute, die früher die kleinen Buden auf dem alten Markt betrieben hatten, an den Stadtrand gegangen und hatten dort etwas aufgezogen, was jetzt der Neue Markt genannt wurde, obwohl es eigentlich der alte Markt war. Rund um den Aldermarkt waren ein paar Kasinos hochgezogen worden in der Hoffnung, Leute anzuziehen, die ihn besichtigen wollten oder sonst irgendetwas im Zusammenhang mit dem Konzent dort zu tun hatten. Doch niemand wollte einen Aldermarkt besichtigen, der von Kasinos umgeben war, und der Konzent war, offen gesagt, auch nicht die große Attraktion, und so sahen die Kasinos schmutzig und trostlos aus. Nachts konnten
wir manchmal Musik aus Diskotheken in deren Untergeschossen hören, aber im Moment waren sie schrecklich still.
    »Dort können wir Frühstück bekommen«, sagte Barb.
    »Kasinorestaurants sind teuer«, hielt ich dagegen.
    »Sie haben ein Frühstücksbuffet, an dem du dich umsonst bedienen kannst. Mein Vater und ich haben manchmal hier

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