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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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hatten, hätte man meinen können, dass wir am liebsten neben Fraa Jad gesessen hätten, aber in Wirklichkeit reagierten wir genau umgekehrt und saßen schließlich so weit von ihm entfernt, wie wir konnten – als wären wir Geheimagenten in einem Spulo, legten wir großen Wert darauf, unsere Tarnung zu wahren und uns nichts anmerken zu lassen. In letzter Minute hastete Arsibalt mit einigen der Hunderter herein; sie hatten in einer der Kammern eine Kalka angestellt. Er machte einen wirren Eindruck und schien unbedingt reden zu wollen. Die photomnemonische Tafel hatte er erst am späten Nachmittag in Augenschein nehmen können. Nun hatte er den geometrischen Beweis auf dem Raumschiff der Cousins gesehen und war
kurz davor zu platzen. Er tat mir leid, als er in den Speisesaal kam und sich gezwungen sah, zwischen mir und Lio oder Fraa Jad und den Bazischen Mönchen als Sitznachbarn zu wählen. Ferman Beller, der seine Unentschlossenheit bemerkte, stand auf und winkte ihn zu sich herüber. Da Arsibalt diese Einladung nicht ausschlagen konnte, ohne einen Affront zu begehen, ging er zu Ferman und setzte sich neben ihn.
    Wir eröffneten unsere Mahlzeiten immer damit, dass wir die Erinnerung an Saunt Kartas heraufbeschworen. Dabei ging es im Wesentlichen darum, dass unser Bewusstsein sich von allen möglichen Ideen ernähren konnte, die von Denkern seit den Tagen des Knous hervorgebracht worden waren, dass wir aber für die physische Ernährung unseres Körpers aufeinander angewiesen waren, vereint unter der Regel, die wir Kartas verdankten. Die Deolatisten hingegen hatten vor dem Essen alle unterschiedliche Rituale. Die Bazische Orthodoxie war eine postagrarische Religion, in der das buchstäbliche Opfer durch ein symbolisches ersetzt worden war; sie eröffneten ihre Mahlzeiten damit, dass sie das in effigie nachspielten, dann ihren Gott eine Weile priesen und ihn schließlich um Waren und Dienstleistungen baten. Der Priester, der das Einkehrzentrum leitete, hatte aus reiner Gewohnheit damit angefangen, war jedoch mittendrin nervös geworden, als er merkte, dass keiner der Avot sich verneigte, alle ihn vielmehr neugierig anstarrten. Wie mir schien, bekümmerte ihn weniger die Tatsache, dass wir nicht glaubten, was er glaubte – daran musste er sich gewöhnt haben. Er schämte sich eher dafür, einen Fauxpas begangen zu haben. Daher bekniete er uns, als er fertig war, irgendeinen Segen oder eine Beschwörung zu sprechen, die vielleicht im Math üblich waren. Wie erwähnt, waren wir sonderbar arm an Sopran- und Altstimmen, aber wir konnten genug Tenor-, Bariton- und Bassstimmen zusammenbringen, um eine sehr alte, einfache Anrufung der Kartas zu singen. Fraa Jad übernahm den Bordun, und ich hätte schwören können, dass er das Besteck auf den Tischen zum Summen brachte.
    Den vier Mönchen schien das sehr zu gefallen, und als wir fertig waren, standen sie auf und sangen ein genauso alt klingendes Gebet. Es musste in den frühen Jahrhunderten ihrer Mönchsära entstanden sein, unmittelbar nach dem Untergang von Baz, denn ihr Altorth war nicht von unserem zu unterscheiden, und es war
offensichtlich komponiert worden, bevor die Musik der Mathe und der Klöster sich in verschiedene Richtungen entwickelte. Wenn man nicht ganz genau auf den Text hörte, konnte man dieses Stück leicht für eins von unseren halten.
    Die Unterhaltung während des Essens war, verglichen mit den Ereignissen der letzten vierundzwanzig Stunden, zwangsläufig oberflächlich, zumal da wir Fluckisch sprechen mussten und in Hörweite unserer Gastgeber das Raumschiff nicht erwähnen konnten. Das machte mich erst frustriert, dann gelangweilt und zuletzt schläfrig, und ich aß die meiste Zeit schweigend vor mich hin. Cord und Rosk sprachen miteinander. Sie waren nicht religiös, und ich wusste, dass sie sich hier unbehaglich fühlten. Eine der jungen Frauen vom Personal gab sich größte Mühe, ihnen das Gefühl zu vermitteln, willkommen zu sein, was jedoch zumeist nach hinten losging. Sammann war ganz in sein Nicknack vertieft, das er irgendwie in das Kommunikationssystem des Einkehrzentrums hineingeflickt hatte. Barb hatte eine Liste der Lagerregeln gefunden und lernte sie auswendig. Unsere drei Hunderter saßen beisammen und unterhielten sich untereinander; sie konnten kein Fluckisch und besaßen nicht den Zauber des Tausenders, der Fraa Jad bei den Bazischen Mönchen zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gemacht hatte. Mir fiel auf, dass Arsibalt sich

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