Anathem: Roman
aufgemalt. Ich glaube, das sind Abbildungen von Planeten. Wie auf einem Militärluftfahrzeug aus dem Praxischen Zeitalter.«
Ich brauchte einen Augenblick, um den Bezug herzustellen. »Moment mal, du glaubst, das sind Abschüsse ?«
Lio zuckte die Achseln.
»Jetzt aber mal langsam!«, sagte ich. »Könnte das nicht auch etwas Harmloseres sein? Vielleicht sind es die Heimatplaneten der Cousins.«
»Ich glaube einfach, dass jeder allzu begierig nach erfreulichen, beruhigenden Interpretationen sucht …«
»Und deine Rolle als Wehrwart in spe besteht darin, weitaus wachsamer zu sein als alle anderen«, sagte ich, »und das machst du wirklich prima.«
»Danke.«
Eine Zeitlang schlenderten wir schweigend auf diesem erweiterten Aussichtsplatz hin und her, wobei wir hin und wieder an anderen
vorbeikamen, die die Pause für ein paar gymnastische Übungen nutzten. Zufällig trafen wir auf Fraa Jad, der allein vor sich hin spazierte. Ich beschloss, dass jetzt der Moment gekommen war.
»Fraa Lio«, sagte ich, »Fraa Jad hat mich darüber aufgeklärt, dass der Millenariermath von Saunt Edhar einer der drei Orte ist, an denen die Säkulare Macht um die Rekonstitution herum ihren gesamten atomaren Abfall gelagert hat. Die anderen beiden sind Rambalf und Tredegarh. Beide wurden letzte Nacht von einem Laser erleuchtet, der vom Raumschiff der Cousins kam.«
Lio war darüber nicht so erstaunt, wie ich gehofft hatte. »Unter Wehrleuten besteht der Verdacht, dass die Drei Unversehrten aus einem bestimmten Grund von der Verheerung verschont blieben. Eine These lautet, dass sie Müllkippen für Allestöter und andere gefährliche Überreste des Praxischen Zeitalters sind.«
»Bitte. Du sprichst von meinem Zuhause. Nenn es nicht Müllkippe«, sagte Fraa Jad. Aber er war amüsiert – nicht beleidigt. Er war – wenn ich das von einem Tausender sagen konnte – zu Scherzen aufgelegt.
»Hast du das Zeug gesehen?«, fragte Lio.
»O ja. Es liegt in Zylindern, in einer Höhle im Felsen. Wir sehen es jeden Tag.«
»Warum?«
»Verschiedene Gründe. Zum Beispiel ist meine Nebenbeschäftigung Strohdecker.«
»Das Wort kenne ich nicht«, sagte ich.
»Das ist ein alter Beruf: jemand, der Dächer aus Gras macht.«
»Welche Verwendung könnte man dafür auf einer M…, äh, Endlagerstätte für atomaren Abfall haben?«
»An der Höhlendecke entsteht Kondenswasser und tropft oben auf die Zylinder. Über Tausende von Jahren könnte es sie zerfressen – oder, was genauso schlecht wäre, Stalagmiten bilden, deren Gewicht die Behälter erdrücken und aufreißen würde. Um das zu verhindern, haben wir immer Strohdächer über den Zylindern gehabt.«
Das war alles so sonderbar, dass mir nichts anderes zu tun einfiel, als weiterhin höflich zu plaudern. »Ah, verstehe. Woher nehmt ihr das Gras? Ihr habt da oben doch nicht viel Platz, um Gras wachsen zu lassen?«
»Wir brauchen nicht viel. Ein ordentlich gebautes Strohdach hält
lange. Ich bin noch damit beschäftigt, all jene zu ersetzen, die von meiner Fid, Suur Avradale, vor einem Jahrhundert gedeckt wurden.«
Lio und ich waren schon ein paar Schritte weitergegangen, als das richtig bei uns ankam; dann warfen wir uns einen Blick zu und kamen wortlos überein, nichts zu sagen.
»Der hat uns nur auf den Arm genommen«, sagte ich, als Lio und ich das nächste Mal ungestört miteinander reden konnten; das war im Einkehrzentrum, in der Zelle, die wir beide uns teilen sollten und in die wir gerade unser Gepäck brachten. »Er hat uns heimgezahlt, dass wir seinen Math eine Müllkippe genannt haben.«
Lio schwieg.
»Lio! So alt ist er nicht!«
Lio setzte seinen Rucksack ab, stellte sich aufrechter hin, als es mir möglich war, und ließ seine Schultern nach unten und hinten rotieren, für ihn eine Art, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Als könnte er Gegner allein durch eine bessere Haltung schon besiegen. »Es braucht uns nicht zu kümmern, wie alt er ist.«
»Du glaubst, dass er wirklich so alt ist.«
»Ich sagte, es braucht uns nicht zu kümmern.«
»Ich meine nicht, dass es uns zu kümmern braucht, aber es wäre interessant zu wissen.«
»Interessant?« Lio machte wieder das mit den Schultern. »Hör mal. Wir sind beide dabei, Scheißdrökh zu reden, findest du nicht?«
»Doch, finde ich auch«, sagte ich ohne Umschweife.
»Genug davon. Wir müssen offen reden – und anschließend den Mund halten, falls wir nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden wollen.«
»Na gut.
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