Anathem: Roman
als er sah, dass sein erster Schachzug fehlgeschlagen war, aber wie ein Fechter hatte er eine Riposte auf Lager. »Für einen, der behauptet, so viel von Manieren zu wissen, ist das ganz außergewöhnlich. In
diesem prächtigen Schiff befinden sich Tausende von Avot. Jeder einzelne ist geradewegs nach Tredegarh gekommen, als er oder sie gerufen wurde. Ein einziger Mensch in diesem Raum hat beschlossen, zum Efferaten zu werden und zu einer Gesellschaft, einer Organisation umzuschwenken, die nicht der mathischen Welt angehört: dem Kult von Orithena. Was um alles in der Welt – oder soll ich sagen, wer um alles in der Welt – hat dich veranlasst, eine derart selbstzerstörerische Entscheidung zu treffen?«
Nun passierte etwas Seltsames in meinem Kopf. Fraa Lodoghir hatte mich mit einem Überraschungsangriff getroffen. Dergleichen beherrschte er gut, und er hatte für alles, was ich zu meiner Verteidigung aufbieten konnte, Gegenzüge vorbereitet. Meine erste Reaktion war natürlich gewesen, dass ich nervös wurde. Aber ohne es zu wissen, hatte er soeben einen taktischen Fehler begangen: Indem er meine nicht genehmigte und »selbstzerstörerische« Peregrination aufbauschte, beschwor er bei mir eine Flut von Erinnerungen an Mahsht und den Überraschungsangriff herauf, den ich dort erlebt hatte: etwas so Schreckliches, dass nichts, was Fraa Lodoghir zu mir sagte, irgend schlimmer sein konnte. Im Vergleich dazu wirkten noch seine stärksten Bemühungen irgendwie komisch. Der Gedanke daran machte mich ruhig, und in dieser Ruhe ging mir auf, dass Fraa Lodoghir mit seiner letzten Frage seine Karten aufgedeckt hatte. Er wollte, dass ich alles auf Fraa Jad schob. Liefere den Tausender ans Messer, sagte er, und alles ist verziehen.
Erst vor einer Stunde hatte Tulia mich vor dem Versuch gewarnt, Politik zu spielen – ich sollte einfach die Wahrheit sagen. Aber irgendeine Kombination aus Sturheit und Berechnung verbot mir, Lodoghir zu geben, was er wollte.
Ich dachte daran, wie die Szene in Mahsht mit dem Angriff der Thaler geendet hatte. Wie sie die Vorgänge beobachtet und sie als Emergenz gedeutet hatten. Ich hatte nicht ihre Ausbildung, aber ich erkannte eine Emergenz, wenn ich eine vor mir hatte.
»Ich habe es aus eigenem Antrieb getan«, sagte ich. »Ich akzeptiere die Konsequenz meiner Entscheidung. Ich wusste, dass eine solche Konsequenz das Anathem sein könnte. In dieser Erwartung habe ich mich nach Orithena begeben. Dort, dachte ich, könnte ich auch als Verstoßener nach mathischer Art leben. Dass man mich nach Tredegarh zurückgeholt und mir erlaubt hat, Embrase zu feiern, ist eine Überraschung und eine Ehre.«
Die Konvox war ebenso stumm wie unsichtbar. Das Ganze spielte sich nur zwischen mir und Lodoghir ab, die wir auf unserem Stück Ebene im Raum schwebten.
Fraa Lodoghir hatte es aufgegeben, Jad dranzukriegen, und ging zu sekundären Zielen über. »Ich verstehe beim besten Willen nicht, wie du denkst! Du sagst, dein Ziel sei es gewesen, nach mathischer Art zu leben? Aber das tatest du doch bereits, oder?« Er wandte sich der Zuhörerschaft im Schiff zu. »Vielleicht wollte er es ja nur irgendwo tun, wo es ein bisschen wärmer ist?«
Der Scherz rief bei einigen Gelächter hervor, aber ich konnte dort draußen, jenseits der Lichter, auch eine ungehaltene Stimmung wahrnehmen. »Fraa Lodoghir verschwendet die Zeit der Konvox!«, rief ein Mann aus. »Thema dieses Plenars ist die Heimsuchung!«
»Mein Loktor hat mich gebeten, ihn mit dem Titel Fraa anzureden, der ihm seiner Behauptung nach zusteht«, erwiderte Fraa Lodoghir, »und er scheint solche Fragen so ernst zu nehmen, dass ich mich veranlasst sehe, dem Sachverhalt auf den Grund zu gehen.«
»Tja, ich freue mich, dass ich dir dabei helfen konnte«, sagte ich. »Was möchtest du gerne über die Heimsuchung wissen?«
»Da wir alle den Spulo gesehen haben, den dein Ita-Genosse aufgenommen hat, hielte ich es für das Produktivste, wenn du uns die Teile deines Erlebnisses erzählen würdest, die nicht Eingang in den Spulo gefunden haben. Was ist in jenen seltenen Augenblicken vor sich gegangen, in denen du imstande warst, dich von deinem Ita-Freund loszureißen?«
Er lieferte mir so viel, wogegen ich Einwände erheben konnte, dass ich gezwungen war, eine Wahl zu treffen: Ich musste den Ita-Köder vorerst ignorieren. Dem Ita einen Namen zu geben, war alles, was ich tun konnte. »Sammann ist ein paar Minuten nach der Landung der Sonde eingetroffen und
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