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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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dachte nicht darüber nach, was ich sagen würde. Stattdessen sinnierte ich über die komische Konstruktion, auf der mein Loktor und ich standen: ein Stück geometrische Ebene, gehalten von einem dreidimensionalen Raumgitter. Wie die Phantasie eines Geometers, eine
modernisierte Version der Ebene, auf der die Theoren von Edhras ihre Dialoge zu führen pflegten.
    »Hast du irgendwelche Fragen, Fraa Erasmas?«, fragte mich mein Loktor.
    »Ja«, sagte ich, »wer bist du?«
    Er schien es ein wenig zu bedauern, dass ich gefragt hatte, doch dann verhärtete sich sein Gesicht zu einer Miene, die – wie ich mit einem Blick auf das riesige bewegte Bild über uns erkennen konnte – in einer Spulo-Aufnahme sehr viel eindrucksvoller wirken würde. Jedenfalls eindrucksvoller als meine. »Der Erste Unter Gleichen des Zentenarischen Kapitels des Ordens Saunt Prok in Munkoster.«
    »Dein Mikrophon wird eingeschaltet – jetzt«, sagte ein Fraa und betätigte einen Schalter an dem Apparat, der an meine Kulle geklemmt war, dann leistete er Fraa Lodoghir den gleichen Dienst. Lodoghir goss sich einen Becher Wasser ein, nahm einen Schluck und musterte mich über den Becherrand hinweg, wartete mit kühler Neugier ab, wie ich mit der Neuigkeit umging, dass er wahrscheinlich der bedeutendste Prokier der ganzen Welt war.
    »Das Plenar beginnt«, sagte er mit einer Stimme, die irgendwie eine Oktave tiefer geworden war und so verstärkt wurde, dass sie im ganzen Schiff zu hören war. Die Zuhörer wurden allmählich leiser, und er ließ ihnen noch ein paar Augenblicke, damit sie ihre Gespräche beenden und ihre Plätze einnehmen konnten. Wegen der Lichter konnte ich nichts sehen; Fraa Lodoghir hätte ebenso gut der einzige andere Mensch auf Arbre sein können.
    »Mein Loktor«, sagte Fraa Lodoghir und hielt dann einen Augenblick lang Schweigen gebietend inne. »Mein Loktor ist Erasmas, ehedem vom Dezenarischen Kapitel einer Einrichtung mit Namen ›Edharischer Orden‹ an einem Ort, der sich selbst, sofern ich nicht falsch unterrichtet bin, Konzent Savant Edhar nennt.«
    Angesichts dieser lächerlich altmodischen Aussprache durchlief ein Kichern das Schiff.
    »Äh, ich glaube, da bist du tatsächlich falsch unterrichtet …«, begann ich, aber mein Mikrophon war nicht in der richtigen Position oder etwas dergleichen, weshalb meine Stimme nicht verstärkt wurde.
    Unterdessen redete Lodoghir einfach über mich hinweg. »Es heißt, das liege oben in den Bergen. Sag mir, wird einem denn nicht
kalt, wenn einen nichts als diese simple Kulle vor den Elementen schützt?«
    »Nein, wir haben Schuhe und …«
    »Ah, für diejenigen von euch, die meinen Loktor nicht hören können: Er teilt uns voller Stolz mit, dass die Edharier tatsächlich Schuhe haben.«
    Endlich kriegte ich es hin, dass das Mikrophon auf meinen Mund zielte. »Ja«, sagte ich. »Schuhe – und Manieren.« Das entlockte dem Publikum ein anerkennendes Raunen. »Ich gehöre dem von dir erwähnten Kapitel und Orden nach wie vor an, und man darf mich mit Fraa anreden.«
    »Oh, ich bitte um Verzeihung! Ich habe mich mit der Sache befasst und eine andere Geschichte zutage gefördert: dass du schon einen Tag nach Beginn deiner Peregrination zum Efferaten geworden, eine Zeitlang in der Weltgeschichte herumgegeistert und irgendwann an diesem Ort mit Namen Orithena gelandet bist, wo man, wie ich höre, so gut wie jeden willkommen heißt.«
    »Man war dort gastfreundlicher als an manchen Orten, die ich nennen könnte«, sagte ich. Ich dachte darüber nach, was Fraa Lodoghir gerade gesagt hatte, und suchte nach einer Möglichkeit, es zu widerlegen und ihn zu ebnen, aber jedes Wort davon war faktisch richtig – wie er sehr wohl wusste.
    Er versuchte, mich dazu zu verleiten, dass ich mich wegen seiner Formulierungen mit ihm herumstritt. Dann würde er mich fertigmachen, indem er alles genau belegte. Wahrscheinlich hielt er die entsprechenden Dokumente in der Hand.
    An jenem Tag auf Blys Koppie hatte Fraa Jad mir gesagt, er werde, wenn er nach Tredegarh komme, alles in Ordnung bringen – dafür sorgen, dass ich nicht in Schwierigkeiten käme.
    War er gescheitert? Nein. Wenn er gescheitert wäre, hätte man mir nicht erlaubt, Embrase zu feiern. Auf irgendeiner Ebene musste Jad also Erfolg gehabt haben. Vielleicht hatte er sich dabei Feinde gemacht.
    Die jetzt meine Feinde waren.
    »Das ist alles richtig«, sagte ich. »Dennoch bin ich hier.«
    Fraa Lodoghir kam einen Moment lang aus dem Konzept,

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