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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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am Kopfende des Unarierschiffs, das riesig und unsinnig prachtvoll war. Ein paar hundert
Avot waren bereits da. Hunderte weitere, wie auch einige Säkulare, strömten zum hinteren Eingang herein und eilten rasch nach vorne, um sich die besten Plätze zu sichern.
    Der Raum zwischen der vorderen Reihe und dem Schirm, der eigentlich hätte frei bleiben müssen, um einen ungehinderten Blick auf die Vorgänge im Chor zu gewähren, war bereits von allerlei säkularer Ausrüstung verstellt. Man hatte ein Gerüst aus Neustoffrohren errichtet, das den Schirm umrahmte, aber nicht blockierte, und stämmige Fids waren bereits damit beschäftigt, Plattformelemente heranzuschaffen, einzupassen, mit Klammern zu verbinden und so eine erhöhte Bühne zu schaffen, die auch von hinten zu sehen war. Andere ließen Seile ablaufen, mit denen sich eine Spulo-Projektionsleinwand entrollen ließ, die den größten Teil des Raums über der Bühne einnahm. Ein Testmuster flimmerte darüber und wurde abgelöst von der Live-Aufnahme eines Spulocorders im Schiff, der ein vergrößertes Bild der Bühne lieferte. Grelle Lichter gingen an, als wollten sie sagen: »Unter keinen Umständen in diese Richtung schauen!« Sie waren hoch oben an Gerüsttürme montiert, die im Raum verteilt waren. Eine mit Kulle und Kord bekleidete Suur, die in ein kabelloses Headset sprach, kam an mir vorbei.
    Der Mann, der meinen Namen gerufen hatte, war ein junger Hierarch, dessen einzige Aufgabe darin bestand, mich zu einem gewissen Fraa Lodoghir zu lotsen: einem Mann im sechsten oder siebten Lebensjahrzehnt, gekleidet in etwas, das sich so weit von meiner Kulle wegentwickelt hatte wie ein Haushuhn von einem prähistorischen Reptil. »Fraa Raz, mein guter junger Freund!«, rief er aus, ehe sich der junge Hierarch die Mühe einer förmlichen Vorstellung machen konnte. »Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich deinen Gesang genossen habe. Wo hast du diese Weise aufgeschnappt? Irgendwo auf deinen Weltreisen?«
    »Danke«, sagte ich. »Ich habe sie in Orithena gehört, und sie ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen.«
    »Faszinierend! Sag mir, wie sind die Leute dort so?«
    »Wie wir, jedenfalls größtenteils. Zuerst fand ich sie ganz anders, aber je mehr ich von den verschiedenen Arten von Avot hier sehe …«
    »Ja, ich verstehe, was du meinst!«, sagte Lodoghir. »Diese Wilden in den Lendenschurzen – aus welchem Baum die wohl gefallen sind?«

    Ich hielt es nicht für sehr produktiv, Fraa Lodoghir zu sagen, dass er mir exotischer vorkam als die »Wilden in den Lendenschurzen«, also nickte ich nur.
    »Hat dir irgendjemand erklärt, dass du gleich Ehrengast eines Plenars sein wirst?«, fragte Fraa Lodoghir.
    »Es wurde erwähnt, aber nicht erklärt.«
    Fraa Lodoghir schien von meiner Redeweise ein wenig verwirrt, doch nach kurzem Schweigen fuhr er fort: »Dann also in aller Kürze: Ich werde dein Loktor sein …«
    »Loktor?«
    »InterLOKuTOR«, sagte Fraa Lodoghir mit Anzeichen von Ungeduld, die er durch ein Schmunzeln zu verbergen suchte. »In Edhar achtet ihr sehr viel stärker auf korrekte Aussprache! Schön, dass ihr so konsequent bleibt! Sagt ihr eigentlich immer noch Savant oder seid ihr wie wir anderen zu Saunt übergegangen?«
    »Saunt«, sagte ich. Fraa Lodoghir redete so viel, dass ich gar nicht das Bedürfnis hatte, viel zu sagen.
    »Großartig, also schön, es geht darum, dass die Konvox Berechnungen angestellt, die Proben analysiert, sich die Spulos von der Heimsuchung Orithenas angesehen hat, aber es gibt natürlich auch ein gewisses Interesse daran, einen Augenzeugen zu hören – und deswegen bist du hier. Um dich der Mühe zu überheben, einen Vortrag auszuarbeiten, werden wir uns der Form eines extemporierten Dialogs bedienen. Ich habe hier einige Fragen« – er raschelte mit einem Bündel Blätter -, »die mir verschiedene interessierte Parteien übergeben haben, sowie einige eigene Themen, die ich gern verfolgen würde, wenn es die Zeit erlaubt.«
    Während dieser Dialog oder vielmehr Monolog vonstatten ging, nahm das Plenar Gestalt an. Die Suur mit dem Headset scheuchte uns eine Treppe hinauf, die man an die Bühnenplattform geschoben hatte, und Fraa Lodoghir folgte mir nach oben. Man klemmte jedem von uns ein Mikrophon an die Kulle. Auf eine kleine Ablage am hinteren Rand der Bühne wurden zwei Becher und ein Krug mit Wasser gestellt. Davon abgesehen gab es keinerlei Möblierung. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich kein bisschen nervös und

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