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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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war, ich konnte es nicht mehr ändern. Der größte Teil des Publikums hatte an dem Stück nichts Auffälliges wahrgenommen und
hörte höflich zu, weshalb ich mich darauf konzentrierte, es sauber zu Ende zu bringen. Doch als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm und genauer hinschaute, sah ich, dass die Burschen in den Lendenschurzen – die den Aut bislang anscheinend ignoriert hatten – aus dem Glied getreten waren und die Position gewechselt hatten, sodass sie mich alle deutlich sahen.
    Als ich fertig war, hätte eigentlich Stille herrschen müssen – die höfliche Reaktion auf ein gut gesungenes Stück. Aber einige der Tausender konnten sich noch immer nicht beruhigen. Ich bildete mir sogar ein, einen Melodiefetzen zu hören, mit dem mir geantwortet wurde. In den weitläufigen Bankreihen hinter den anderen Schirmen redeten kleine Grüppchen von Fraas und Suurs immer noch darüber und wurden von ihren Nachbarn mit »Pst«-Lauten zum Schweigen gebracht.
    Nun traten die Männer in den Lendenschurzen vor und gaben ihrerseits einen rechnerischen Gesang zum Besten. Er klang äußerst sonderbar und baute auf Modi auf, die sich komplett von unseren unterschieden. Es war schwer zu glauben, dass Stimmbänder dazu ausgebildet werden konnten, solche Laute hervorzubringen. Aber ich hatte das Gefühl, dass es als Berechnung dem, was ich gesungen hatte, sehr ähnlich war. Als sie die Sequenz zu Ende gebracht hatten, sang der mit dem Schmerbauch eine Art Coda, die, wenn ich sie richtig verstand, feststellte, dass dies lediglich die letzte Phrase einer Berechnung sei, die sein Orden seit dreitausendsechshundert Jahren kontinuierlich durchführte.
    Die letzte Gruppe waren die Matarrhiten: einer der ganz wenigen mathischen Orden, die an Gott glaubten. Sie waren das Überbleibsel eines zentenarischen Ordens, der in den Jahrhunderten unmittelbar nach der Rekonstitution auf hundert gekommen war. Sie hatten sich die Kullen über den Kopf gezogen, sodass sie das Gesicht bis auf einen Schleier vor den Augen vollständig bedeckten. Sie sangen eine Art Trauergesang – eine Klage, so wurde mir klar, darüber, dass man sie dem Schoß ihres Konzents entrissen hatte, und ein Hinweis – als ob es eines solchen bedurft hätte -, dass sie nur insoweit mit uns zusammen zu sein gedachten, wie es absolut erforderlich war. Das Ganze war gut vorgetragen, doch ich fand es weinerlich und ein wenig unhöflich.
    Diese Darbietungen waren der vorletzte Teil des Auts der Embrase. Obwohl ich es zu dem Zeitpunkt nicht richtig mitbekommen
hatte, waren wir schon zu Beginn des Auts aus dem Register der Peregrins gestrichen und förmlich in die Konvox aufgenommen worden. Wir hatten unsere Gelübde erneuert, und an unsere Heimatkonzente waren sonderbar aussehende, von Hand auf Tierhäute geschriebene Dokumente abgesandt worden, in denen man ihnen mitteilte, dass wir angekommen waren. Die Lieder, die wir gerade dargeboten hatten, stellten unseren ersten, wenn auch symbolischen Beitrag zur Arbeit der Konvox dar, wie diese auch immer aussehen mochte. Nun blieb uns nur noch, stehen zu bleiben, während alle anderen – die Tausende hinter den Schirmen – aufstanden, um einen Canticulus zu singen, der feststellte, dass unsere Beiträge ordnungsgemäß entgegengenommen wurden und dass man froh sei, uns hier zu haben. Während der letzten Strophe begannen die Hierarchen durch den Schirm in das Schiff der Unarier zu ziehen. Wir, die Embrase-Gruppen, folgten ihnen in derselben Reihenfolge wie zuvor. Ich bildete die Nachhut. Wir waren (zumindest symbolisch) als Säkulare durch das Tagestor und das Besucherschiff eingetreten und gingen nun, da wir wieder Avot geworden waren, in einen Math ab. Der Canticulus begann an Zusammenhalt zu verlieren, während die letzten Hierarchen im Gänsemarsch hinausgingen, und als ich über die Schwelle trat und den Chor hinter mir leer zurückließ, war die Melodie im Geschlurfe und Gemurmel der abziehenden Konvox untergegangen.
    Tredegarh: Einer der Großen Drei Konzente, benannt nach Saunt Tredegarh, einem Theor des mittleren bis späten Praxischen Zeitalters, der für grundlegende Fortschritte in der Thermodynamik verantwortlich war.
    DAS WÖRTERBUCH, 4. Auflage, A. R. 3000
    In die mathische Welt zurückgekehrt, offiziell dekontaminiert und in der Lage, meinen eigenen Interessen nachzugehen, war ich allein – zwei Sekunden lang. Dann rief jemand »Fraa Erasmas!«, als würde ich verhaftet.
    Ich blieb stehen. Ich befand mich

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