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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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war zu gehen.

    Obwohl es mir später vorkam, war bis zum Abendessen noch eine ganze Stunde Zeit. Ich fragte, ob ich noch einmal in meine Zelle gehen und ein paar Aufzeichnungen holen könne, die ich dort liegen gelassen hatte. Spelikon stellte mir eine Sondererlaubnis aus, mit der ich mich bis zum Abendessen im Regelwarthof aufhalten durfte.
    Ich dankte ihnen, verabschiedete mich und hielt das Blatt auf dem Weg zurück zu meiner Zelle jedem Hierarchen, der mir über den Weg lief, vor die Nase. Bis ich in der Zelle angekommen war und mein Tagebuch unter der Pritsche hervorgezogen hatte, war eine Idee – die dreißig Sekunden zuvor beim Abschied von den Prüfern noch nicht existiert hatte – in meinem Kopf entstanden und hatte sich meines Gehirns bemächtigt. Warum sollte ich nicht gleich zum Sternrund hinaufschleichen und diese Tafel holen?
    Natürlich gewann meine Vernunft die Oberhand. Ich wickelte mein Tagebuch in das lose Ende der Kulle ein und verließ diese Zelle – für immer, hoffte ich. Fünfzig Schritt den Laufgang entlang brachten mich in die südwestliche Ecke, an den oberen Absatz der Zehnertreppe. Ein paar Fraas und Suurs stiegen hinauf und hinunter und trafen Vorbereitungen für die Wachablösung im Wehrwarthof. Ich trat zur Seite, um einem Platz zu machen, der heraufkam. Er hatte seine Kapuze aufgesetzt und gab nicht acht, wohin er ging. Dann kamen meine Füße in sein Blickfeld. Er zog die Kapuze zurück, womit er einen frisch geschorenen Kopf enthüllte. Es war Lio.
    Wir hatten uns so viel zu sagen, dass keiner von uns wusste, wo er anfangen sollte, sodass wir uns eine Zeitlang nur anstarrten und unzusammenhängende Laute von uns gaben. Was wahrscheinlich gar nicht verkehrt war, da ich im Regelwarthof überhaupt nichts sagen wollte. »Ich begleite dich ein Stück«, sagte ich und machte kehrt, um neben ihm in gleichen Tritt zu fallen.
    »Du musst mit Tulia sprechen«, murmelte er, während wir zum Wehrwarthof hinaufstiegen. »Du musst mit Orolo sprechen. Du musst mit allen sprechen.«
    »Auf dem Weg zu deiner neuen Arbeit?«
    »Delrakhones lässt mich ein Praktikum machen. He, Raz, wohin gehst du eigentlich?«
    »Zum Sternrund.«
    »Aber das ist …« Er packte mich am Arm. »He, Idiot, du könntest verstoßen werden!«
    »Das hier zu tun ist wichtiger, als nicht verstoßen zu werden«, sagte
ich. Was ziemlich idiotisch war, aber ich fühlte mich wie ein Rebell und dachte nicht richtig nach. »Ich werde es dir später erklären.«
    Ich hatte Lio von dem inneren Laufgang, der für ein vertrauliches Gespräch zu voll war, fort und an die Peripherie des Wehrwarthofes geführt, so als wollten wir uns an die Kante stellen. Auf dem Weg dorthin mussten wir durch einen engen Bogen gehen. Lio ließ mir mit einer Handbewegung den Vortritt. Ich trat in den Bogen – und merkte im selben Moment, dass ich ihm soeben den Rücken zugekehrt hatte. Bis das in mein Gehirn eingedrungen war, hatte er mir bereits den Arm umgedreht. Ich hatte die Wahl: weitergehen und die nächsten zwei Monate mit dem Arm in der Schlinge verbringen oder nicht weitergehen. Ich beschloss, nicht weiterzugehen.
    Meine Zunge funktionierte noch. »Schön, dich wiederzusehen, Distelkopf. Erst bringst du mich in Schwierigkeiten – und jetzt das.«
    »Du hast dich selbst in Schwierigkeiten gebracht. Jetzt sorge ich dafür, dass du das nicht wieder tust.«
    »Ist das die Art, wie man die Dinge im Neuen Zirkel regelt?«
    »Du solltest dich mit Äußerungen über den Ausgang der Elikt zurückhalten, solange du keine Ahnung hast, was hier vor sich geht.«
    »Also, wenn du mich loslässt, damit ich zum Sternrund hinaufgehen kann, werde ich mich als Nächstes ins Refektorium begeben und mich auf den neuesten Stand der Dinge bringen.«
    » Schau mal «, sagte er und drehte mich um, sodass ich den Weg überschauen konnte, auf dem wir gekommen waren. Ich befürchtete schon fast, wir wären gesehen worden. Doch dann erblickte ich eine Prozession schwarz gekleideter Gestalten mit hohen Hüten auf dem Weg nach oben. Sie begaben sich in den Schacht darüber und stießen immer wieder scheppernd an die Eisenteile.
    »Ach so«, sagte ich, »kein Wunder, dass es da oben so sauber ist.«
    » Warst du etwa da oben?! « Vor lauter Entsetzen packte Lio so fest zu, dass es mir wehtat.
    »Lass mich los! Ich verspreche dir, dass ich nicht weiter raufgehe«, sagte ich.
    Lio ließ meinen Arm los. Es gelang mir, ihn langsam und mit Bedacht wieder in eine menschlichere

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