Anathem: Roman
echte Relikte. Der Sockel war sein Sarg. Ich warf mich dahinter. Die beiden leichtfüßigen Avot rannten auf dem Weg zur westlichen Seite des Balkons den Laufgang hinunter. Sie liefen direkt an mir vorbei. Ich stand auf, nahm, damit mir so etwas nicht noch einmal passierte, den längeren Weg außen herum und stürzte die Stufen zum Regelwarthof hinab. Hinter der halbhohen Mauer, die den Laufgang umgab, warf ich mich auf den Boden, von wo ich mich auf Hände und Knie erhob. In dieser Haltung hastete ich bis zu meiner Zelle. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich einmal über den Anblick dieses Raums freuen würde.
Jetzt gab es nur noch das kleine Problem, dass ich vor Schweiß triefte, meine Brust sich rasch hob und senkte, mein Herz wie die Rotoren des Luftfahrzeugs hämmerte, ich Hautabschürfungen an Knien und Handflächen aufwies und vor Erschöpfung und Nervosität zitterte. Da war nicht viel zu machen. Mit ein paar leeren Blättern wischte ich mir den Schweiß aus dem Gesicht, zog meine Kulle enger um mich, damit so viel wie möglich von mir verdeckt war, und setzte mich mit dem Rücken zur Tür am Fenster auf meine Kugel, so als hätte ich mir den Vorgang unten angeschaut. Danach ging es einfach darum, meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen, während ich auf den Moment wartete, wo jemand vom Stab der Regelwartin bei mir vorbeischaute.
»Fraa Erasmas?«
Ich drehte mich um. Es war Suur Trestanas – vom Aufstieg selbst etwas errötet im Gesicht.
Sie trat in die Zelle. Seit der Zehnten Nacht hatte ich nicht mehr mit ihr gesprochen. Sie erschien mir jetzt merkwürdig normal und menschlich – als wären wir einfach zwei alte Bekannte, die ein Schwätzchen miteinander hielten.
»Mmh?«, sagte ich; mehr wollte ich für den Fall, dass meine Stimme komisch klänge, lieber nicht von mir geben.
»Hast du eine Ahnung, was gerade passiert ist?«
»Von hier oben aus ist das schwer festzustellen. Es klang fast wie Voko.«
»Es war Voko«, sagte sie, »und du hättest dort sein sollen.«
Ich bemühte mich, fassungslos auszusehen. Was womöglich in Anbetracht meines Zustands kein Kunststück war. Vielleicht wollte sie mich aber auch so unbedingt fassungslos sehen, dass sie leicht zu täuschen war. Jedenfalls ließ sie ein paar Augenblicke verstreichen, in denen ich auf heißen Kohlen saß. Dann sagte sie: »Diesmal werde ich dich nicht zum Buch verurteilen, auch wenn das eigentlich ein schweres Vergehen ist.«
Im Übrigen , dachte ich, müsstest du mir Kapitel sechs geben – wogegen ich Einspruch erheben könnte -, und das würdest du nicht gerne vertreten müssen.
»Danke, Suur Trestanas«, sagte ich. »In dem unwahrscheinlichen Fall, dass wir noch einmal Voko haben, solange ich hier bin, soll ich dann hinuntergehen?«
»Genau das sollst du«, antwortete sie, »und es von hinter dem Schirm des Primas sehen. Und unmittelbar danach wieder hierherkommen.«
»Außer es ist mein Name, der gerufen wird«, sagte ich.
In dieser Situation war sie nicht zum Scherzen aufgelegt, sodass sie das nur durcheinanderbrachte. Dann war sie verärgert, weil sie sich hatte durcheinanderbringen lassen. »Wie kommst du mit Kapitel fünf voran?«, fragte sie.
»Ich hoffe, in ein oder zwei Wochen bin ich bereit zur Prüfung«, sagte ich.
Dann fragte ich mich, wie ich in dieser Zeit diese Tafel aus dem Auge der Clesthyra holen und hier herausschmuggeln sollte.
Suur Trestanas zeigte mir sogar den Ansatz eines Lächelns, bevor sie sich verabschiedete. Vielleicht lag es daran, dass die beiden Inquisitoren jetzt weg waren und dass jeder seltsame Beweggrund, der hinter ihrer Entscheidung liegen mochte, mich zum Buch zu verurteilen, mit ihnen entschwunden war. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, dass meine Bestrafung jetzt praktisch beendet und der Rest nur noch eine Formalität war. Deshalb brannte ich darauf weiterzumachen. Während des restlichen Tages machte ich größere Fortschritte in Kapitel fünf als in der ganzen Woche zuvor.
Am nächsten Tag läutete es wieder zur Elikt. Zwei weitere traten
den Edhariern bei, zwei dem Neuen Zirkel, und die Reformierten Alten Faanier gingen wieder leer aus.
Einer der Namen, die für den Neuen Zirkel gerufen wurden, war Lio. Das erstaunte mich, und ich fragte mich eine Zeitlang, ob ich richtig gehört hatte. Es ist schwer zu sagen, warum, weil es vollkommen plausibel war. Lio war ein offensichtlicher Wehrwartkandidat. Sein Kampf mit den Dards in der Zehnten Nacht musste Fraa Delrakhones
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