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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Anblick ließ einen die Verbindung zu einer Zeit spüren, als die Konzente reicher, nobler, besser ausgestattet und – obwohl das völlig unsinnig war – irgendwie älter waren als jetzt.
    Das Fässchen war offensichtlich aus Vroneiche gefertigt, was bedeutete, dass der Wein darin in einem anderen Konzent aus dem
Saft der Bibliothekstraube gekeltert und zum Reifen hierhergeschickt worden war.
    Die Bibliothekstraube war in den Tagen vor der Zweiten Verheerung von den Avot des Konzents der Unteren Vron sequenziert worden. Jede Zelle trug in ihrem Kern die genetischen Sequenzen nicht nur einer einzigen Gattung, sondern aller natürlich vorkommenden Traubengattungen, von denen die Vronavot je gehört hatten – und wenn diese Leute von einer Traube noch nichts gehört hatten, dann brauchte man sie auch nicht zu kennen. Außerdem besaß sie Auszüge aus den genetischen Sequenzen von Tausenden verschiedener Beeren, Früchte, Blumen und Kräuter: genau die Datenfetzen, die, wenn sie von dem biochemischen Nachrichtensystem der Wirtszelle aufgerufen wurden, Geschmacksmoleküle bildeten. Jeder Zellkern war ein Archiv, größer als die Große Bibliothek von Baz, in dem Codes zur Ausgestaltung nahezu sämtlicher von der Natur je hervorgebrachter Moleküle gespeichert waren, die im olfaktorischen System des Menschen einen Eindruck hinterlassen hatten.
    Da eine bestimmte Rebe nicht all diese Gene auf einmal zum Ausdruck bringen – nicht hundert verschiedene Arten von Trauben gleichzeitig sein – konnte, »entschied« sie, gestützt auf die Ergebnisse eines vollkommen undurchsichtigen und zweifelhaften Datenerfassungs- und Entscheidungsprozesses, die von den Vronavot von Hand in ihre Proteine hineinkodiert worden waren, welche der Gene sie umsetzen – welche Traube sie sein und welche Aromen sie sich ausborgen – wollte. Keine Sonnen-, Boden-, Wetter- oder Windnuance war zu subtil, um von der Bibliothekstraube nicht berücksichtigt zu werden. Nichts von dem, was der Winzer tat oder unterließ, blieb unentdeckt oder ohne Konsequenzen für das Aroma des Saftes. Die Bibliothekstraube war legendär für ihre Fähigkeit, die Täuschungsmanöver von Winzern zu durchschauen, die so arrogant waren zu glauben, sie könnten sie durch Tricks dazu bringen, zwei Jahre in Folge dieselbe Traube zu sein. Die einzigen Menschen, die sie je wirklich verstanden hatten, waren während der Zweiten Verheerung an eine Wand gestellt und erschossen worden. Viele moderne Winzer gingen lieber auf Nummer sicher und benutzten altmodische Trauben. Eine fruchtbare Beziehung zur Bibliothekstraube zu entwickeln, war Fanatikern wie Fraa Orolo überlassen, der das zu seiner Nebenbeschäftigung gemacht hatte. Natürlich hassten Bibliothekstrauben die Bedingungen in Saunt Edhar und
reagierten immer noch auf einen Vorfall fünfzig Jahre zuvor, als Orolos Vorgänger die Reben falsch geschnitten und dadurch den Boden mit schlechten, in Pheromonen verschlüsselten Erinnerungen vergiftet hatte. Die Trauben beschlossen, klein, blass und bitter zu wachsen. Der daraus gewonnene Wein war nur etwas für Kenner, und wir versuchten nicht einmal, ihn zu verkaufen.
    Mit Bäumen und Fässern hatten wir mehr Glück. Während nämlich die Vronavot mit der Zucht der Bibliothekstraube beschäftigt gewesen waren, hatten sich die Fraas und Suurs ein paar Meilen talaufwärts im ländlichen Math von Obervronwald ähnliche Mühe mit den Bäumen gegeben, die traditionellerweise zu Fässern verarbeitet wurden. Die Zellen des Kernholzes der Vroneiche – immer noch halb lebendig, lange nachdem der Baum umgehauen, in Dauben gesägt und zu einem Fass zusammengebunden worden war – nahmen Moleküle auf, die im Wein umhertrieben, ließen manche frei und andere nach außen dringen, bis sie sich als wohlriechende Schimmer, Rinden und Ablagerungen an der Außenseite des Fasses niederschlugen. Dieses Holz stellte an seine Lagerbedingungen ebenso hohe Ansprüche wie die Bibliothekstraube an Klima und Boden, sodass ein Winzer, der seine Fässer schlecht behandelte und ihnen nicht die gewünschte Stimulation zukommen ließ, damit bestraft wurde, dass er sie außen verkrustet und von den wünschenswertesten Harzen, Zuckersorten und Tanninen triefend und im Inneren mit nichts als Reinigungslösung versehen vorfand. Das Holz liebte dieselbe Temperaturspanne und Feuchtigkeit wie die Menschen, und seine Zellstruktur reagierte auf Schwingungen. Wie Musikinstrumente hallten die Fässer im Einklang mit der

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