Anathem: Roman
menschlichen Stimme wider, sodass Wein, der in einem für Chorproben benutzten Gewölbe gelagert wurde, anders schmeckte als solcher, der entlang der Wand eines Speisezimmers gebunkert wurde. Das Klima von Saunt Edhar war für den Anbau der Vroneiche gut geeignet. Mehr noch, wir waren ziemlich bekannt für unsere Fähigkeiten bei der Reifung. In unserem Refektorium fühlten Fässer sich ebenso wohl wie in unserem Mynster und reagierten bestens auf das viele Reden und Singen. Weniger erfolgreiche Konzente schickten ihre Fässer zum Reifen hierher. Schließlich hatte sich bei uns ziemlich guter Stoff angesammelt. Eigentlich sollten wir ihn nicht trinken, aber hin und wieder stibitzten wir doch ein wenig.
Korlandin bekam den Stopfen ohne Zwischenfälle heraus, füllte den Wein in ein mundgeblasenes Quarzreagenzglas und goss ihn von dort in die Fingerhüte. Der erste davon wurde zu mir weitergereicht, aber ich hütete mich, gleich daraus zu trinken. Jeder am Tisch musste einen bekommen – als Letzter Fraa Korlandin, der seinen erhob, mir in die Augen schaute und sagte: »Auf Fraa Erasmas und seine neu gewonnene Freiheit – möge sie lange andauern, möge er sie auskosten, möge er sie klug nutzen.«
Dann allgemeines Geklirr. Ich war unsicher wegen des »Möge er sie klug nutzen«-Teils, trank aber trotzdem.
Das Zeug war phantastisch, so als tränke man sein Lieblingsbuch. Die anderen waren zu dem Toast alle aufgestanden. Jetzt setzten sie sich wieder hin und gaben mir den Blick auf das übrige Refektorium frei. Manche Tische schauten dem Toast zu und hoben Trinkkrüge mit was immer sie gerade tranken. Andere waren in ihre eigenen Unterhaltungen vertieft. Am Rand standen, zumeist allein, diejenigen, mit denen ich am liebsten sprechen wollte: Orolo, Jesry, Tulia und Haligastreme.
Das nicht gerade asketische Abendessen zog sich ziemlich in die Länge. Sie gossen mir immer wieder nach. Ich fühlte mich richtig gut versorgt.
»Jemand muss ihn zu seiner Pritsche bringen«, hörte ich einen Fraa sagen, »er ist fertig.«
Schon waren Hände unter meinen Armen und halfen mir hoch. Ich ließ sie mich bis zum Klostrum begleiten, ehe ich sie abschüttelte.
Meine Zeit im Mynster hatte mir bewusst gemacht, welche Teile des Konzents von den Fenstern der Regelwartin aus nicht zu sehen waren. Ich drehte mehrere Bahnen um das Klostrum, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, ging dann in den Garten und setzte mich auf eine Bank, die vor Blicken geschützt war.
»Bist du in diesem Zustand überhaupt ein empfindungsfähiges Wesen, oder soll ich lieber bis morgen früh warten?«, fragte eine Stimme. Ich schaute hinüber und entdeckte Tulia, die sich zu mir gesellt hatte. Ich war ziemlich sicher, dass sie mich geweckt hatte.
»Bitte«, sagte ich und klopfte mit der flachen Hand auf die Bank neben mir. Tulia setzte sich hin, jedoch mit etwas Abstand, um einen Oberschenkel auf die Bank legen und sich seitlich zu mir drehen zu können.
»Ich bin froh, dass du wieder draußen bist«, sagte sie, »es ist viel passiert.«
»Das habe ich mir schon gedacht«, sagte ich. »Lässt sich das irgendwie kurz zusammenfassen?«
»Irgendetwas … stimmt mit Orolo nicht. Niemand weiß, was.«
»Na komm! Das Sternrund ist verriegelt worden. Was braucht man da noch zu wissen?«
»Das ist offensichtlich«, sagte sie, leicht verärgert über meinen Ton, »aber niemand weiß, warum. Wir glauben, dass Orolo es weiß, aber er sagt nichts.«
»Ach so. Entschuldige.«
»Das hat sich auf die Elikt ausgewirkt. Manche Fids, von denen man erwartet hatte, dass sie den Edhariern beitreten würden, sind in andere Orden gegangen.«
»Das habe ich gemerkt. Warum? Welche Logik steckt dahinter?«
»Ich bin mir nicht sicher, dass es überhaupt logisch ist. Bis zur Apert wussten alle Fids genau, was sie machen wollten. Dann sind so viele Dinge auf einmal passiert: die Inquisitoren. Deine Buße. Die Schließung des Sternrunds. Fraa Paphlagons Evokation. Das hat die Leute aufgerüttelt – sie das Ganze noch einmal überdenken lassen.«
»Wie überdenken?«
»Es hat alle dazu veranlasst, politisch zu denken. Sie trafen Entscheidungen, die sie andernfalls vielleicht nicht getroffen hätten. Zunächst einmal kamen Zweifel auf, ob es überhaupt klug sei, den Edhariern beizutreten.«
»Du meinst, weil sie sich politisch ins Abseits stellen?«
»Sie stehen immer politisch im Abseits. Zu sehen, was dir widerfahren ist, hat die Leute aber zu der Erkenntnis
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