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Anatomie

Anatomie

Titel: Anatomie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bass jefferson
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über ein Mordopfer erfahren kann, wenn man seinen Schädel, seinen Brustkorb, sein Becken und andere Knochen untersucht. Wer war dieser Mensch, der in Stücke gehackt und auf einem Schrottplatz versteckt wurde? Wie steht es mit Alter, Ethnie, Geschlecht und Wuchs? Passen seine Zahnfüllungen oder seine verheilten Knochenbrüche zu den Röntgenbildern vermisster Personen? Stammt dieses Loch im Schädel von einer Kugel oder einem Golfschläger? Wurde er mit einer Kettensäge oder einem Skalpell zerstückelt? Und schließlich die Frage, auf deren Gebiet sich meine Forschungseinrichtung im vergangenen Vierteljahrhundert vor allem einen Namen gemacht hat: Wie lange ist der arme Kerl, dem Grad der Zersetzung nach zu urteilen, schon tot?
    Wenn sich herumspricht, dass man sich mit Dutzenden von Leichen in verschiedenen Stadien der Verwesung befasst, bekommt man natürlich alle möglichen interessanten Anfragen. Aus diesem Grund kniete ich jetzt über einer Leiche und stieß ihr ein Jagdmesser in den Rücken.
    Ich schaute auf mein »Opfer« hinunter. Die Waffe ragte noch aus der sickernden Wunde. »Ich führe hier ein kleines Experiment durch«, sagte ich zu dem völlig verwirrten Deputy, der mich in flagranti erwischt hatte. »Obwohl er ein Messer im Rücken hat, ist der Kerl in Wahrheit an einer Koronarthrombose gestorben – nach einer halben Marathonstrecke.« Williams blinzelte überrascht, aber ich zuckte nur lässig die Achseln. »Vierzig Jahre alt, ist jeden Tag gelaufen. Man könnte wohl sagen, dass seine Beine dem Herzen davongelaufen sind.« Ich wartete auf einen Lacher, aber es kam keiner. »Jedenfalls hat seine Frau vor ungefähr zwanzig Jahren hier an der University of Tennessee einige meiner Anthropologie-Vorlesungen besucht, und als er umgekippt ist, hat sie seine Leiche der Forschung überlassen. Ob das etwas Gutes oder etwas Schlechtes über die Ehe aussagt, vermag ich nicht zu beurteilen.«
    Williams’ Augen klärten sich und fokussierten ein wenig – er schien zu überlegen, ob er jetzt nicht zumindest lächeln sollte –, also redete ich weiter. Die Worte, so dachte ich mir, geben ihm etwas, woran er sich klammern kann, während er sich von seinem Panikanfall erholt. »Ich bin Sachverständiger in einem Mordfall, der bald vor Gericht geht, und versuche, eine Stichverletzung zu reproduzieren; ohne viel Erfolg. Sieht aus, als müsste ich ein paar Gesetze der Physik oder der Metallurgie verletzen, um mit diesem Messer hier dem Stichkanal zu folgen, den der Medical Examiner beschrieben hat.« Sein Blick wanderte von meinem Gesicht zu der Leiche und wieder zurück. »Sehen Sie, im Bericht dieses medizinischen Sachverständigen hieß es, das Messer sei auf der linken Seite in den Rücken des Opfers eingedrungen und dann nach oben an der Wirbelsäule vorbei in den rechten Lungenflügel umgeschwenkt. Unmöglich. Also, ich kriege das jedenfalls nicht hin. Unter uns gesagt, ich glaube, der Medical Examiner hat die Obduktion verpfuscht.«
    Ich hatte den Deputy an den Stamm einer Eiche gelehnt. Inzwischen sah er so aus, als sei er womöglich bereit aufzustehen, also zog ich einen Handschuh aus und half ihm auf die Füße. »Sehen Sie sich ruhig um, wenn Sie möchten«, sagte ich und wies nickend auf einen Haufen bekleideter Leichen am Rand der größten Lichtung. »Vielleicht sehen Sie etwas, was Ihnen eines Tages bei der Lösung eines Falls hilft.« Er dachte darüber nach, bevor er sich vorsichtig nach der Lichtung umblickte. »Da drüben läuft ein Experiment zur Verwesung, bei dem es um den Unterschied zwischen Baumwollbekleidung und synthetischen Stoffen geht. Wir möchten wissen, ob bestimmte Stoffe die Verwesungsgeschwindigkeit verlangsamen oder beschleunigen. Bis jetzt sieht es so aus, als hätte Baumwolle die Nase vorn.«
    »Und wozu soll das gut sein?« Ah: Er konnte sprechen!
    »Baumwolle hält Feuchtigkeit länger, was den Fliegen und Maden zu gefallen scheint.« Er zuckte zusammen, offensichtlich bereute er seine Frage schon. »Oben auf dem Hügel im Wald«, fuhr ich fort, »haben wir eine abgeschirmte Hütte, wo wir die Insekten von einer Leiche fernhalten. Sie würden staunen, wie sehr sich die Verwesungsgeschwindigkeit verlangsamt, wenn keine Insekten an die Leiche können.« Ich wandte mich zu ihm um. »Eine Studentin hat gerade eine Studie über den Gewichtsverlust von Leichen fertiggestellt. Raten Sie mal, wie viel Kilo eine Leiche am Tag verlieren kann?« Er starrte mich an, als käme ich von

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