Anatomie einer Affäre: Roman
dass ich sie das frage. Es ist ein grober Regelverstoß, und ich habe ziemlichen Spaß daran. Ich weiß nicht, was ich da stehle, aber es ist ein Kinderspiel, das weiß ich.
»Ich meine, wie ist denn deine Nana so?«
»Meine Nana?«
»Ist sie ein bisschen gemein?«
»Was?«
Und ich möchte mich über den Tisch beugen und sagen: »Dein Vater ist nicht der Mann, für den du ihn hältst.«
Das tue ich natürlich nicht, vielmehr sage ich: »Wie schmeckt dir die heiße Schokolade?«
»Mmmmn.«
Es ist nicht nötig, Evie über ihren Vater aufzuklären. Sie kennt ihn besser als jeder andere, denn sie liebt ihn mehr als jeder andere. Die Tatsachen über ihn – seine Küsse und seine Lügen, sein Charme und seine Missetaten – , was bedeuten sie Evie schon?
Was bedeuten sie mir schon?
Ich sage: »Ich erinnere mich an dich, als du noch ein ganz kleines Dingelchen warst.«
»Echt?«
»Lange vor deinem Vater und mir. Ich meine, lange vor irgendwas. Du warst einfach …«
»Wie war ich?«
Ich betrachte sie. Seáns Pupillen haben einen goldenen Ring, der so blass ist, dass er fast weiß wirkt. Bei Evie geht das Grau in loderndes Bernstein über – höchst intensiv.
»Eigentlich warst du damals schon so, wie du jetzt bist.«
»Wie alt war ich da?«
»Vier oder fünf.«
Sie schaut aus dem Fenster.
»Es gibt Videos«, sagt sie. »Aber wir haben das falsche Ladegerät.«
»Du warst total niedlich.«
»Wirklich? Ich glaube, die Videos waren vor allem für die Ärzte.«
»Nun ja, Süße, alle haben sich sehr um dich gesorgt.«
Ich spüre das Verlangen, ihr einen Kuss aufzudrücken – dort, wo ihr schwarzes Haar endet und die Haut ihres Ohres in die Haut ihrer Wange übergeht.
Ich frage sie, ob sie sich daran erinnert, dass sie krank war, und sie bejaht, aber ich weiß nicht, ob das überhaupt geht – schließlich war sie erst fünf. Sie sagt: »Ich hatte so ein schreckliches Gefühl im Magen, als hätte ich was Schlimmes getan, und dann – bumm. Ich dachte, ein Riese hätte mir auf den Kopf gestampft. Aber kurz davor, eine Sekunde davor, da war es richtig schön. Es war wie: ›Jetzt kommt er. Jetzt kommt der Stampf.‹«
»Das hattest du bestimmt von ›Krampf‹. Jetzt kommt der ›Krampf‹.«
Sie schweigt.
»Wir sagen nicht ›Krampf‹«, erklärt sie. »Wir sagen ›Anfall‹.«
»Ja, natürlich«, erwidere ich (denn zu Kindern muss man höflich sein). »Tut mir leid.«
»Aber ich habe nichts Schlimmes getan.«
»Nein, natürlich nicht.«
»Ich meine, es hat mich so geärgert. Ich hab mir die Hosen nass gemacht und alles Mögliche.«
»Trink aus. Wir gehen.«
Ich glaube, Evie wird sich berappeln. Trotz allem. Man könnte sagen, allen unseren Bemühungen zum Trotz ist das Kind auf einem guten Weg.
Sie hält den Pappbecher in ihren Fäustlingen und trinkt. Auf ihrer Oberlippe flammt ein flaches Schokoladen-V auf. Sie beobachtet mich über den Rand des Bechers hinweg. Sie fragt: »Wofür steht ›Gina‹?«
»Für gar nichts. Meiner Mutter gefiel der Name einfach. «
»Klingt nett.«
»Findest du?«
Wir gehen hinaus auf die Straße und blicken zu einem düsteren Himmel auf, aus dem Schnee rieselt wie durch ein Sieb.
»Wollen wir ein Taxi nehmen?«, frage ich. »Aus Spaß an der Freude?« Aber Evie sagt: »Mein Papa ist noch nicht im Haus.«
»Wohin möchtest du denn?«
»Weiß ich doch nicht.«
»Lass uns ein bisschen spazieren gehen. Magst du spazieren gehen?«
Ich nehme ihren Rucksack, und wir gehen in Richtung Stephen’s Green. Wir betreten den Park durch ein Seitentor, durchqueren ihn und steuern die Bushaltestelle an der Earlsfort Terrace an. Wir reden nicht viel. Evie schlittert in einer Weise auf ihren Schuhsohlen, die mich irritieren würde, wenn ich ihre Mutter wäre, aber mich selbst irritiert es nicht sonderlich.
Ich laufe mit Seáns entzückendem Fehler durch die dunkler werdende Stadt. Denn in Wahrheit war es ein Fehler, dass Seán ein Kind bekommen hat, und es war ein ganz besonderer Fehler, dass er dieses Kind bekommen hat, ein Kind, das die Welt mit seinen grauen Augen betrachtet, aber aus einer Perspektive, die ganz ihr gehört. Geliebte können ausgewechselt werden, denke ich leicht verbittert, Kinder dagegen nicht. Wer immer sie am Ende sein mag, Seán wird für immer die liebende Evie am Hals haben.
Ich glaube, ich liebe sie auch – ein bisschen.
Ihr Handy piept, und ich weiß, dass er es ist, dass er endlich gelandet ist. Sie braucht eine Ewigkeit, um ihre
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