Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
Vom Netzwerk:
worden war oder zu lange gedauert hatte.
    »Was machst du da, Evie?«
    »Ich gucke nur.«
    In gewisser Weise war das einfach Evies Art. Evie, hör auf herumzutrödeln . Seit ihrem dritten Lebensjahr konnte Evie nie aus einem Auto steigen, ohne vor dem Sprung eine endlos lange Pause einzulegen. Türschwellen brachten sie zum Stillstand. Sämtliche Wege waren schwierig – nicht für sie, sondern für die Menschen um sie her, die nie ganz ergründen konnten, wie sie es fertigbrachte, alles zu verlangsamen.
    Komm schon, Evie . Dann war dies also nichts anderes als eine Weigerung, aufzuwachsen. Eines Tages kam sie ihrer Mutter im Einkaufszentrum von Dundrum abhanden, und als die verzweifelte Aileen sie draußen bei den Springbrunnen wiederfand, konnte Evie nicht sagen, wo sie gewesen war.
    »Ich war nur«, sagte sie. »Ich weiß nicht.«
    Seán wollte nicht glauben, dass ein Problem vorlag. Sein Leben mit mir hatte inzwischen eine gewisse Bedeutung erlangt; er war ein Mann, der sich bemühte, das Gleichgewicht zu wahren. Abgesehen davon wollte er »diesmal einfach nicht mitspielen«. Und obwohl er in jenen langen Tagen des Dahintreibens nach Joans Tod Evie mit mir am Telefon erörterte, konnte er es einfach nicht ertragen, Aileen zuzuhören, wenn ihre Panikmaschine sich erneut in Gang setzte.
    »Es ist alles in Ordnung mit ihr«, sagte er. »Sie wächst nur heran. Es ist schon in Ordnung.«
    Dann, eines Samstags nach den Ferien, kam Evie nicht aus ihrer Schauspielklasse. Seán, der sie abholen sollte, wartete und blickte immer wieder auf seine Armbanduhr. Er ging ins Klassenzimmer, wo die Lehrerin gerade ihre Sachen zusammenpackte, und erfuhr, dass Evie, obwohl man sie an jenem Tag vor der Tür abgesetzt hatte, nicht zum Unterricht erschienen war. Die beiden begannen, das Gebäude abzusuchen – dann beschloss Seán, es draußen zu versuchen. Er rannte auf die Straße und den Hügel hinauf, vorbei an Häusern, an Türen und an Mädchen, die an der Bushaltestelle rauchten, hinein ins Einkaufszentrum, wo er die erstbeste Rolltreppe hinunterlief. In der Mitte des Atriums blieb er stehen, sah auf und erblickte eine veränderte Welt, eine Welt voller Winkel, Türen und Möglichkeiten, die er nie zuvor wahrgenommen hatte.
    Er wollte ihren Namen herausschreien und schrie dann doch nicht. Er fand einen Wachmann, der in sein Walkie-Talkie murmelte, eine Telefonnummer aufnotierte und ihm riet, die örtliche Polizeidienststelle anzurufen. Was Seán auch tat, als er wieder auf der Straße stand und Busse, Autos und alte Damen mit Einkaufstrolleys betrachtete, die ihren üblichen Besorgungen nachgingen. Der Mann am anderen Ende der Leitung bat ihn, am Apparat zu bleiben. Dann eine weibliche Stimme. Ich muss mich schlimm anhören, dachte er, wenn sie mich an eine Frau weiterreichen.
    »Können Sie Ihre Tochter beschreiben?«
    Allein durch die Art und Weise, wie sie das Wort »Tochter« aussprach, kam er sich wie ein Lügner vor. Er kam sich vor wie jemand, der drauf und dran ist, ertappt zu werden.
    »Sie hat große Augen«, sagte er.
    Am anderen Ende der Leitung Schweigen.
    »Lassen Sie sich Zeit, Sir. Können Sie mir die Farbe ihrer Augen beschreiben?« Und an dieser Stelle geschah es: Er verwandelte sich in jemanden, der seine Tochter mit Worten beschreiben kann, wie man sie bisweilen in den Abendnachrichten hört: Alter, Größe, Haarfarbe.
    »Was hatte sie an?«
    »Ich muss ihre Mutter anrufen«, sagte er. Und kaum hatte er die Verbindung beendet, rief Aileen ihn an.
    Einige Augenblicke lang ergaben weder ihre Worte noch ihre Stimme einen Sinn – ebenso gut hätte sie Dänisch reden können –, dann dämmerte ihm schließlich, dass Evie Aileen oder Aileen Evie angerufen hatte und dass sie die ganze Zeit dort gewesen war, wo sie hatte sein sollen: im Theater.
    »Du hast die Unterrichtsstunde auf der Toilette verbracht? « Worauf Evie entgegnete: »Nein!« Gefolgt von: »Muss ich wohl.«
    Ihnen blieb nichts anderes übrig, als erneut die Ärzte aufzusuchen und wieder die gleiche Runde zu absolvieren: Überweisungen, endlose Wartelisten, erhöhte Wachsamkeit und morgendliche Unruhe. Aileen verbrachte jeden Abend im Internet, googelte nach »Absencen«, »Läsionen«, »Pubertät«, machte sich alles zu eigen.
    Als sie sich schließlich bei Dr. Prentice wiederfanden – Aileen sagte, es sei ihr schwergefallen, der Frau nicht »um den Hals zu fallen« –, wusste Evie nur wenig zu sagen. Sie beantwortete alle Fragen und gab

Weitere Kostenlose Bücher