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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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entschuldigend, mit der Flasche und sagt: »Ich nehme mir nur eine Gratisprobe.«
    Und wir gehen weiter. Ich drücke ihr die Hand ins Kreuz und schiebe sie vorwärts; beide bemühen wir uns, nicht zu lachen.
    Ich bringe sie zu den MAC-Ständen, und sie schaut mich an, als könne dies unmöglich erlaubt sein. Aber ich schere mich nicht darum. Sie ist groß genug, um, wenn sie es darauf anlegt, für älter durchzugehen – allerdings nur, wenn sie in ihrem großen, ehrlichen Gesicht den richtigen Ausdruck hervorbringt.
    Es ist Freitagnachmittag, und trotz des Wetters platzt der Laden aus allen Nähten. Wir befinden uns in einem Gemengsel von Mädchen, die sich im Zeitlupentempo vor einem Labyrinth von Ganzkörperspiegeln hin und her bewegen und ihre Unsicherheit in einen Pinselstrich hiervon und einen Tupfer davon verwandeln. Sie wechseln zum nächsten Pinsel, zur nächsten Lotion, dann beugen sie sich langsam wieder vor: lüstern, verzückt.
    »Weißt du, wonach du suchst?«, frage ich.
    Evie strebt geradewegs auf eine Auslage mit Grundierungen zu, greift sich eine heraus, die mindestens zwei Töne zu hell ist, und beginnt, sie mit energischem Pinseldruck aufzutragen. Highlighter, Rouge und Selbstbräuner lehnt sie ab und entscheidet sich stattdessen für einen noch blasseren Puder und einen breiten Lidstrich. Ich frage mich, was für Schlafzimmerrituale zu all dieser Expertise geführt haben – vermutlich hat Paddy ihre grässliche Hand im Spiel.
    »Fabelhaft«, sage ich.
    Währenddessen probiere ich zwei Grundierungen aus: gleicher Ton, unterschiedliche Konsistenz, auf jeder Wange eine.
    Sie wählt einen Lidschatten in tiefstem Violett, weil der, wie sie meint, ihre Augenfarbe richtig »knallen« lässt.
    Ich weiß nie, ob Evie einmal gut aussehen wird. Ich kneife die Augen leicht zusammen und versuche einzuschätzen, wie sie sich im Lauf der Jahre wandeln wird: die Nase etwas kräftiger, das Kinn fester. Aber ich kann das Bild nicht bannen; ihre wechselnden Züge treten auseinander, und ihr künftiges Gesicht zerfällt.
    Alle Kinder sind schön: Was sie mit ihren Augen anstellen, wenn sie einen taxieren oder doch zu taxieren scheinen, ist umwerfend. Es ist, als würde man von einem Außerirdischen beobachtet oder von einer Katze – wer weiß schon, was die so alles sehen? Evie ist also schön, weil sie ein Kind ist, aber zugleich sieht sie ziemlich gewöhnlich aus. Das Make-up offenbart es – möglicherweise zum ersten Mal. Ihre Wangenknochen werden nie viel hermachen, glaube ich, und die Nase ist eher wie ein Klecks. Aber noch immer hat sie diese hinreißenden, wachsamen Augen.
    »Steht Megan auf Make-up?«, frage ich.
    »Was?«
    »Megan. Meine Nichte.«
    Sie antwortet nicht. Verwandtschaftsverhältnisse sind für sie vielleicht nur schwer nachvollziehbar. Dann sagt sie: »Megan steht im Moment eigentlich mehr auf Manga.«
    »Tu das nicht«, sage ich. Sie hat einen violetten Lippenstift herausgedreht, der so dunkel ist, dass er fast schwarz wirkt.
    »Nein?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?« Weil dein Vater mich umbringen wird .
    »Da könnte Herpes dran sein.«
    Sie schaut mir in die Augen. »Stimmt doch gar nicht!«
    Plötzlich, jählings sucht sie Streit. Mir schwant, was ihre Mutter sich dieser Tage bieten lassen muss – nur dass ich das Gegenteil abbekomme. Bei mir wird der Vorwurf umgedreht:
    Du bist nicht meine Mutter !
    Was für ein heftiger Gefühlsausbruch. Und ich weiß darauf keine Antwort.
    Sie hat ja recht: Es war eine dumme Bemerkung, und ich bin tatsächlich nicht ihre Mutter. Ich habe keinerlei Ansprüche. Ich kann ihre Launen nicht widerspiegeln, sie nicht zurückspiegeln. Ich sehe die nächsten paar Jahre meines Lebens vor mir: Was immer sie mir an den Kopf wirft, ich muss es erdulden, ein stummes Behältnis für ihren Hass.
    Ich sage: »Wow, blaue Wimperntusche.«
    Evie legt den Lippenstift weg.
    »Wo?«
    Ich stehle mich davon und kaufe ihr die Wimperntusche – vermutlich als Bestechungsgeschenk (wohl eher Blutgeld), aber es zeigt Wirkung. Sie ist begeistert. Evie war immer leicht zu beglücken, und die Pubertät hat daran nichts geändert. Sie reibt sich den größten Teil des Make-ups wieder ab. »Es sieht immer besser aus, wenn man damit geschlafen hat«, sage ich, und wir gehen zurück zur Dawson Street und unterhalten uns über Tätowierungen, Ohrenpiercing, Haarfärbemittel und die Anzahl der Punkte, die man heutzutage benötigt, um Veterinärmedizin zu studieren.
    »Deine Mama«, sage

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