Der Aufstand
[zur Inhaltsübersicht]
Prolog
Im schottischen Hochland
November 1992
D
er Wind tobte um das Cottage, Regen ergoss sich vom pechschwarzen Himmel. Die Zweige der Bäume schlugen wütend gegen die Fenster.
Der Strom war ausgefallen, das alte Gemäuer von den Schatten flackernder Kerzen erfüllt. Der zwölfjährige Junge hatte oben auf der knarrenden Treppe den heftigen Streit zwischen seinen Eltern und seinem Großvater mitgehört und sich gewünscht, dass es endlich still werden würde. Er wusste, dass es um ihn ging. Am liebsten wäre er runtergerannt und hätte sie angeschrien. Sie sollten endlich damit aufhören.
Doch dann war plötzlich diese Kreatur erschienen, die wie ein Mensch aussah, aber unmöglich einer gewesen sein konnte.
Sprachlos vor Entsetzen, hatte der Junge durch die Stäbe des Geländers mit ansehen müssen, wie der Eindringling die Tür eintrat und den Flur durchquerte. Der Streit war augenblicklich verstummt, und alle Beteiligten starrten den Fremden entgeistert an. Der Schrei seiner Mutter übertönte selbst das Heulen des Sturms.
Das Wesen zögerte keine Sekunde. Es packte seinen Vater und seine Mutter und hob sie hoch, als wären sie schwerelos. Krachend wurden ihre Schädel gegeneinander geschlagen – ein Geräusch, das der Junge nie mehr vergessen sollte. Dann hatte es die sterbenden Eltern zu Boden fallen lassen und war über sie hinweggestiegen. Mit einem Lächeln auf den Lippen trat das Wesen auf den Großvater zu, als habe es alle Zeit der Welt.
Der alte Mann wich zurück, zitternd vor Angst, und sagte etwas, das der Junge nicht verstehen konnte.
Die Kreatur lachte nur und biss zu. Ihre Zähne senkten sich in den Hals des Alten, und der Junge hörte deutlich das Gurgeln des Blutes, das die Kreatur gierig aussaugte.
Es war genau wie in den Geschichten seines Großvaters. Jenen Geschichten, die der alte Mann ihm, wäre es nach den Eltern gegangen, niemals hätte erzählen dürfen. Der Junge war von dem Anblick zu erschrocken, um zu weinen. Zitternd schloss er die Augen und begann zu beten.
Dann war es vorbei. Als er die Augen wieder öffnete, war die schreckliche Kreatur verschwunden. Der Junge rannte die Treppe hinunter und starrte die zusammengekrümmten Leichen seiner Eltern an, als er plötzlich vom anderen Ende des Zimmers ein leises Stöhnen hörte.
Sein Großvater lag mit weit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken. Der Junge stürzte auf ihn zu, kniete sich neben ihn und betrachtete entsetzt die Wunde an seinem Hals, aus der kein Tropfen Blut mehr floss.
Die Kreatur hatte ihn leer gesaugt.
«Ich sterbe», keuchte der Großvater.
«Nein!», schrie der Junge.
«Ich werde mich verwandeln.» Das Gesicht des alten Mannes war leichenblass, trotzdem packte er die Arme des Jungen so fest, dass es schmerzte. «Du weißt, was du jetzt zu tun hast.»
«Nein, bitte …»
«Du musst es tun», flüsterte der Alte und zeigte mit letzter Kraft auf den Säbel, der über dem Kamin hing. «Und zwar sofort, bevor es zu spät ist.»
Schluchzend taumelte der Junge zum Kamin und hob den Säbel aus der Aufhängung. Er wog schwer in seiner Hand. «Beeil dich», krächzte sein Großvater.
Der Junge aber ließ die Klinge sinken. «Ich kann nicht», schluchzte er. «Bitte, Opa, ich will das nicht.»
Sein Großvater blickte zu ihm auf. «Du musst es tun, Joel. Und wenn es getan ist, dann denk an das, was ich dir gesagt habe.» Seine Lebenskraft schwand so rasch, dass das Sprechen ihm größte Mühe bereitete. «Du musst es finden. Finde das Kreuz. Es ist das Einzige, wovor sie sich wirklich fürchten.»
Das Kreuz von Ardaich. Der Junge erinnerte sich. Tränenüberströmt schloss er die Augen.
Als er sie wieder öffnete, sah er, dass sein Großvater tot war.
Draußen tobte noch immer der Sturm. Der Junge stand über der Leiche und weinte. Doch dann öffneten sich schlagartig die Augen des Großvaters. Der alte Mann setzte sich auf und fletschte knurrend die Zähne.
Einen Augenblick lang stand der Junge wie hypnotisiert da, dann wich er erschrocken zurück. Sein Großvater wollte sich erheben. Aber nein, das war nicht mehr sein Großvater. Der Junge wusste, was aus ihm geworden war.
Das Kerzenlicht funkelte auf der Klinge, als er den Säbel emporriss. Er schlug mit aller Kraft zu, genau so, wie der alte Mann es ihm beigebracht hatte. Und dann spürte er, wie die Klinge sich ihren Weg durch den Hals seines Großvaters bahnte, den Kopf vom Körper trennte.
Als es vollbracht war,
Weitere Kostenlose Bücher