Anatomie Einer Nacht
wenn er es trotzdem versuchte, gab es eine Strafe, Schläge auf die Handflächen, kein Essen, und als er in seine Heimat zurückkehrte, betrachtete ihn seine Familie mit Argwohn, der sich erst legte, als er schwor, er habe sie nicht verraten, es habe ihm nicht gefallen –
eine Lüge, wie er zugeben musste: Während der letzten Monate hatte er sich eingelebt, nachdem die Familie beschlossen hatte, dass man dem kleinen Wilden vertrauen könne. Man hatte die Matratze vom Dachboden heruntergeholt und ihm das Zimmer neben Evis gegeben, das Gästezimmer mit der blauen Tapete, den blauen Vorhängen und dem blauen Bett, das nach Blumen roch, und schon nach kürzester Zeit war ihm jede Erinnerung an Grönland entfallen, er fing an, sich selbst als Däne zu sehen und zu bezeichnen, und beim Abschied weinte er und weigerte sich zu gehen.
In den ersten Monaten zurück in Amarâq fragte er sich, ob er sich eigentlich am richtigen Ort befand, denn das Vertraute seiner Heimat begann vor seinen Augen zu verschwinden. Die einzige Straße bekam Abzweigungen, die Schule wurde abgerissen und neu gebaut, das Krankenhaus wurde vergrößert, und Wohnblocks wurden errichtet, Legebatterien für Kleinfamilien, die die grönländischen Großfamilien in Einheiten von maximal drei Personen zerlegten oder eine Überbevölkerung in den eigenen vier Wänden verursachten, was den dänischen Behörden aber als uneuropäisch galt, denn man musste sich das Bett teilen – drei Personen auf einer Matratze, auf einem Leintuch, unter einer Tuchent –, undenkbar unzivilisiert. Im Hafen tauchten, wie aus dem Nichts, Boote mit Außenbordmotoren auf und kleine Yachten, die Kajaks aber, die vor den Häusern gelegen hatten, wurden so selten, dass man nach einer Weile ihre Existenz bestaunte. Schließlich änderte die Bevölkerung ihr Aussehen, anfangs wirkte sie verkleidet in den dänischen Gewändern, anfangs schien es Keyi, als bewegte sie sich anders, unbeholfener, und wäre insgesamt verletzlicher, denn sie tapste durch eine Welt, die sie nicht mehr kannte.
Er verrechnete für den Beutel Zwieback, die Milch, den Topf Orangenmarmelade und die Packung Cornflakes absichtlich zu viel mit dem Vorsatz, die Differenz für sich zu behalten, als heimliche Rache, aber Kristina ertappte ihn dabei und nahm ihm das Versprechen ab, den Irrtum wiedergutzumachen: bei einer Hundeschlittenfahrt, die sich über mehrere Wintertage und -nächte erstreckte, Tage und Nächte in einer ihm, wie er geglaubt hatte, wohlbekannten Menschenleere, die jedoch mit ihr in einem Ausmaß gefüllt war, dass es ihm schien, als er in seine Hütte am Stadtrand zurückkehrte, er wäre allein, zum ersten Mal in seinem Leben.
In Amarâq nimmt Einsamkeit Geiseln: Sie sortiert alle Möglichkeiten aus, bis keine mehr übrig, die Zukunft vorgegeben und man selbst Prophet alles Zukünftigen geworden ist, indem das Unberechenbare unschädlich gemacht wird. Vielleicht besteht der Wert der Liebe darin, das Unvorhersehbare eine gewisse Zeit lang zu konservieren.
Keyi hört Schritte, diesmal nähern sie sich der Küche, schnell schlüpft er durch die angelehnte Tür in den Duschraum.
Die zersplitternde Scheibe zerlegt die nächtliche Stille, die wie üblich entleert ist, als befände sich die Stadt in einem Behälter und man müsse ihn nur entkorken, auf dass alle Geräusche hineinströmen, doch der Riss hält nicht lange, er ist bald wieder gestopft und die Stille intakt, noch bevor Per seine Hand durch das Loch in der Scheibe schiebt, das Fenster mit drei Fingern entriegelt, in Malins Wohnküche steigt, sein Kopf zaghaft zurückgehalten von feinen, fast durchsichtigen Gardinen, deren Enden verknotet sind. Er landet mit einem Fuß auf der Heizung, mit dem anderen auf dem Linoleumboden und zwängt beide Beine und den Rumpf in den Spalt zwischen Esstisch und Heizkörper. Tastet sich am Tisch entlang Richtung Stuhl und Wand, die Keksdose auf der Platte wackelt, ebenso die kleine weiße Blumenvase mit den verwelkten Glockenblumen, dann fällt das Plastikherz, das an der Tür befestigt ist, auf das Holz, Per stößt es beiseite, findet so den Lichtschalter an der Türleiste. Eine halb aufgebrauchte Klopapierrolle und ein Aschenbecher stehen auf dem niedrigen Klapptisch vor der Couch, die gestreifte Decke auf dem Sessel gegenüber ist zusammengeknüllt, und Per scheint, es hinge noch Malins Duft über ihr.
Er wendet sich ab, dreht sich zur Küchentheke, zieht die rechte Schublade auf, farbiger Zwirn, rot,
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