Anatomie Einer Nacht
Amarâq während eines Winters zu Beginn des letzten Jahrhunderts, als die Bewohner so hungrig waren, dass sie die bereits unter den Steinen bestattete Leiche einer alten Frau aus dem Graben hoben, sie wie ein totes Tier auf den Dorfplatz zogen und auf das Brett legten, auf dem normalerweise Robben oder Eisbären zerteilt wurden. Die Leiche sei starr und hart gewesen, weil sie gefroren war. Igequo, sagte Laerke, habe zuerst den Kopf von den Schultern getrennt und ihn neben sich auf den Boden gelegt, so dass dieser beobachten konnte, was als Nächstes passierte –
dann schlitzte er die Kleidung auf, setzte das Messer ans Fleisch und begann, es vom Körper zu schneiden, doch es klebte in einer so dünnen Schicht unter der Haut, dass er in die Knochen schnitt.
Sie seien nicht satt geworden, und auch an den folgenden Tagen hätten die Jäger nicht jagen können, denn sie seien zu schwach gewesen, die meisten sogar zu schwach, um aufzustehen und die Notdurft draußen zu verrichten, so hätten sie ins Haus gepisst. Die Hungersnot habe angehalten, fuhr Laerke fort, während sie ihren Kopf langsam hin- und herschwenkte und Per getrocknete Fischstücke gab, ihre Stimme war dunkel, die Laute waren gerundet, ohne Kanten und Ecken, und es schien ihm, als würden ihn ihre Worte liebkosen, obwohl sie von einem Alptraum berichteten.
Als Nächstes starb ein älterer Mann. Sie warfen seinen Kopf in eine Wanne und kochten ihn. Der Schädel schwamm im Kreis, wurde mal nach rechts, mal nach links getrieben, nach einer Weile zog sich die Haut über dem Mund zusammen, und er fletschte seine Zähne, während sein Gesichtshaar im Wasser wallte. Sein Fleisch schmeckte nicht gut, es war zäh.
Die Menschen hätten auch diese Mahlzeit hastig verdrückt, sagte Laerke, danach seien sie noch immer hungrig gewesen und Igequo habe sich umgesehen und seinen Sohn angestarrt, er habe gesagt, das Kind sehe schwach aus, es werde diesen Tag nicht mehr überleben, und er habe es gepackt, vor das Haus gezerrt und es mit einem Riemen erdrosselt –
wie einen Hund, und als das Kind nicht mehr zuckte, stieß er das Messer ins Fleisch und begann es von den Knochen zu lösen.
Sie hielt inne und beobachtete Per, der in seine Augen gekrochen war, sie ließ die Bilder sinken, bis in seinen Magen, dann erst sagte sie: Allerdings hatten sie vergessen, die Tür der Seelen zu essen, sie waren zu gierig gewesen, so rächten sich die Seelen des Kindes, indem sie sich von jedem einzelnen Bewohner verschlucken ließen und deren Gedanken und Träume verknoteten, bis sich in den Köpfen die Nacht ausbreiten konnte, so dunkel und dicht, dass alle Seelen flohen.
Laerkes Drang, Kindern in Not zu helfen, hatte mit einem von ihr wohlgehüteten Geheimnis zu tun: mit einem Jungen namens Emil.
1939 war sie auf dem Weg nach Dänemark mit ihrem damals fünfjährigen Sohn. Emils Vater Martin, ein in Ostgrönland forschender Geologe, hatte auf seine abgehackte Art, so überschwänglich, wie es stotternd möglich war, versprochen, nachzukommen, wurde aber vom Ausbruch des Krieges daran gehindert und musste im Forschungslager bleiben, und die verabredete Hochzeit in Kopenhagen wurde verschoben. Martins Eltern lehnten ihre Rolle als Schwiegereltern in spe ab, weil sie nicht gut auf ihre zukünftige Schwiegertochter zu sprechen waren. Sie fanden sie ordinär, vulgär, ungebildet, unzivilisiert, unmodisch, mit einem Wort: unmöglich, und machten einen Sport daraus, sie zu kritisieren.
Schließlich überredeten sie Herrn und Frau Professor Møller, Laerke als Dienstmädchen zu sich zu nehmen (entscheidend waren die in den Handschuhen versteckten Banknoten, die noch am gleichen Abend ihre Besitzer wechselten), Emil aber durfte seine Mutter nicht begleiten, sondern wurde in ein Waisenhaus in Holte gebracht, zwanzig Kilometer vor Kopenhagen und von endlosen Feldern umgeben, um den Umstand zu vertuschen, dass das Dienstmädchen ein uneheliches Kind hatte. Noch durch die Waisenhaustür rief Laerke ihm zu, sie glaubte durch den Spalt sein Gesicht sehen zu können und wie seine Fingerspitzen durch die Ritze stießen, sie würde ihn holen kommen, bald, sie verspreche es, sie würden zusammen nach Hause fahren, in dem Schiff, du weißt schon, im schwankenden Haus.
In all der Zeit wartete Laerke vergeblich auf eine Nachricht von Martin. Sie musste davon ausgehen, dass er entweder gestorben war oder sich in eine andere Frau verliebt hatte; es wäre nicht das erste Mal gewesen. Als das Ende
Weitere Kostenlose Bücher