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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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immer helfen in ihrem Laden Arbeitslose aus, auch Anders war unter ihnen, ehe er das Bestücken der Regale, das Fegen des Bodens und das Bedienen der Kaffeemaschine von einem Tag auf den anderen aufgab.
    Hinter dem Buchladen führt ein schmaler Pfad am Seiteneingang der Kirche vorbei zur Schule und zu ihrem Nebengebäude, einem schwarzbraunen Glashaus mit flachem Dach und einem unscheinbaren, weißgetünchten Verbindungsgang. An einer Stelle stößt das Haus an den Hügel, der es umgibt, Anders hat sie gesucht. Mit einem Fuß bleibt er auf dem Hang stehen, während er mit dem anderen nach dem Glas tritt, die Scheibe bricht. Er steckt seine Hand durch das Loch, tastet nach dem Griff, drückt ihn hinunter, das Fenster öffnet sich.
    Momente der Klarheit: So selten sind sie, dass sie, wenn sie da sind, unwirklich erscheinen, unwirklicher als die Wachträume, die Anders als seine Wahrheit akzeptiert, nun, da seine Wirklichkeit ihr Aussehen geändert hat, ihren Geschmack, ihren Geruch, ihre Struktur. Doch jedes Mal, wenn er auftaucht und nach ihr schnappt, ihr, die ihm trotz allem vertraut ist, scheint sie ein Stück weiter weggerückt zu sein.
    Komm, Idi.
    Er steigt auf den Tisch, springt von der Tischplatte auf den Boden, geht ein paar Schritte nach rechts, seine Beine wissen genau, was sie tun, er tastet die Wand ab, ein Knipsen, das Licht geht mit einem nervösen Blinken an: Sie sind umgeben von Computern auf breiten, grauen Tischen. Sie sind im Internetcafé der Schule, das Café ist der Getränkeautomat in der Ecke.
    Er fährt einen Rechner hoch und grinst.
    Setz dich.
    Drei Wochen sind vergangen, seit Sara aus dem Hubschrauber stieg. Sie konnte sich kaum noch an diesen Teil ihrer Kindheit erinnern, die endlose Weite der Landschaft verunsicherte sie, und es verwirrte sie, dass das Land nicht leer, sondern in einem erstaunlichen Ausmaß gefüllt war. Fast schien ihr, sie sei geschrumpft oder habe eine Zeitreise gemacht und sei in der Vergangenheit gelandet, als sie noch weniger als einen Meter maß.
    Während sie sich genauer umsah, Erde und Steine in die Hand nahm, die Luft tief einsaugte, als wäre diese ein Getränk und ihre Nase ein Strohhalm, traf sie die Erkenntnis, dass sie nicht in der Vergangenheit, sondern in ihrem Inneren angekommen war: Dieses Land war magisch, es verband, verknüpfte eines mit dem anderen, etwas geriet an die Oberfläche, etwas, das in der Vergangenheit viel bedeutet hatte, und Vergangenheit war es, die sie fand, das Tor zu einer Zeit, die damals noch Glück versprochen hatte. In ihrer Seele müsste es so aussehen, wenn man sie bereisen könnte, dachte sie, genau so und nicht anders, es gäbe klar definierte Flächen, Berge, die trotz ihrer Höhe, aber wegen ihrer Breite wie Ebenen aussehen, die ineinandergreifen und auseinanderklaffen, endlose Flächen von Wasser, die nicht nur Fenster wären, durch die man in die Tiefe sieht, sondern auch Öffnungen, durch die man aus der Tiefe angesehen wird: Augen.
    Als Sara auf der einzigen Straße Amarâqs durch die Stadt trabte, sie ging nicht, sie lief, denn sie hatte es eilig, das zu sehen, was sie all die Jahre mit Heimat verbunden hatte, glaubte sie diesen Geruch wiederzuerkennen, den Geruch nach Feuchtigkeit, Regen, Fjord und Fischen, den Geruch nach feuchtem Holz und etwas, das sie nicht identifizieren konnte, einen eigenartigen Duft, der in so geringer Menge vorhanden war, dass er lediglich auffiel, wenn man mitten in ihm stand, und trotzdem etwas in ihr auslöste, das sie Erinnerung nennen wollte –
    und während sie lief, erinnerte sie sich auch an das Haus ihrer Kindheit, an seine rote Farbe, die sieben Stufen, die auf die Straße führten, und als sie die Tür des Hotelzimmers öffnete, glaubte sie sich in ihr altes Zimmer versetzt, sie sah das Gestell, in dem die Bücher über-, unter-, neben- und aufeinandergestapelt und -gesteckt waren, als versuchten sie, sich mit aller Kraft ins Regal zu zwängen, sie erinnerte sich an den von ihrem Onkel mit Restholz gezimmerten roten Anhänger in Form einer Blockhütte, in dem sie so gerne übernachtet hatte, und sie erinnerte sich daran, mit einem Roller, den sie eines Tages bei den Kühlschränken an der Küste gefunden hatte, auf den großen, flachen Steinen im Wasser gefahren, weniger gefahren, als vielmehr im Fjord gestanden zu sein, aber immer wieder mit einem Bein Schwung geholt zu haben, als würde diese kleine Bewegung den Roller, nein, den ganzen Stein zum Schwimmen bringen, mit dem

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