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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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glitten seine Hände ein Stückchen weiter hinauf, und sie sagte nichts, denn es erschien ihr harmlos, für diese Art von Aufmerksamkeit war er bekannt.
    Während er seine Hände wandern ließ, befragte sie ihn nach dem Leben außerhalb, er antwortete ihr, fütterte ihre Träume, bis sie nicht anders konnte, als seinen Vorschlag anzunehmen, im Tausch gegen ein Telefonat. Er kenne wichtige Menschen, er werde sie kontaktieren, um ihr ein Stipendium für Kopenhagen zu verschaffen, sagte er, sie brauche nur stillzuliegen.
    Vier Monate später war sie schwanger.
    Während Idi unter Fluchen, Lachen und mit verbissener Miene Außerirdische abschießt, die Schüsse dringen trotz Kopfhörer nach außen, umtänzeln ihren Kopf, ein akustischer Heiligenschein, weniger ein Schein, vielmehr ein Igelkopf, denn die Töne rattern, pieksen und stechen, erwandert Anders die Schule von der Ecke der Bibliothek aus, in der sich die Rechner mit Internetanschluss befinden, allesamt ausgemusterte Modelle, die ans Ende der Welt geschickt wurden, um aus Absendern Wohltäter zu machen.
    Seine Absätze schmatzen auf dem glatten Steinboden. Durch die Glasfront, die auf den Spielplatz hinausgeht, dringt das Licht der Nacht, eine Mischung aus Monden- und Lampenschein, und verwandelt die Geräte auf dem Platz, die Schaukel, die Kletterburg und die Rutsche, in bizarre Bäume und zu Schatten erstarrte Tiere, und Anders tritt, mit jedem Blick, den er in diese Welt ausschickt, in sie ein und wird zu einem Teil von ihr. Bald glaubt er, die Kiste ausrauben zu müssen, die direkt hinter der Schaukel steht: Mikileraqs Kiste mit den verdorrten Stiefmütterchen. Er leert den Blumentopf aus, schüttet die Erde und Steinchen in einen Plastikbeutel, den er in seiner Brusttasche verwahrte, und freut sich, dass er nicht beim Diebstahl erwischt wurde –
    wie Svea-Linn, die geschnappt und in ein Gefängnis gebracht wurde, aus dem sie nie wieder zurückkam; allerdings war sie keine Diebin gewesen, sondern eine Mörderin.
    Wenn Sara ehrlich wäre, müsste sie zugeben, dass sie nicht nach Amarâq gekommen war, um ihre Heimat zu finden; sie kam wegen Henning Løvgreen zurück.
    Sie lernte Henning in Kopenhagen kennen, nach der Messe der grönländischen Gemeinde, er schien auf jemanden zu warten, sie sprach ihn an, fragte, ob sie ihm helfen könne, er antwortete, er wolle sich bloß umsehen, und fragte, ob sie mit ihm einen Kaffee trinken würde, und sie sagte, ja, gerne, obwohl sie wusste, dass in ihrem Leben, so wie es ihr Plan vorsah, kein Platz für eine zweite Person war, und doch rückten sie an diesem Nachmittag enger zusammen, als sie es sich jemals gestattet hatte.
    Bald wuchs in ihr eine Zärtlichkeit für Henning, die sie in dieser Form für noch niemanden empfunden hatte, eine Zärtlichkeit ohne Ziel, ohne Zweck, die immer dann auftauchte, wenn sie an ihn dachte oder ihn ansah, aber mit einer Traurigkeit unterlegt war: Durch ihn erfuhr sie, dass Unerreichbarkeit schmerzt. Eigentlich war Unerreichbarkeit nicht das richtige Wort, er war ständig in Bewegung, mal kam er ihr so nahe, dass sie glaubte, seine Gedanken sehen zu können, mal entglitt er ihr, und sie konnte nichts dagegen tun, aber es bedrückte sie, denn er schien nur fern von ihr wirklich glücklich.
    Äußerlich war er das Gegenteil von ihr, hell, fast durchsichtig, die Augen hatten die Farbe von Luft, wenn sie vom Licht der Sonne so stark verdünnt wird, dass lediglich ihre Essenz übrig bleibt, und wenn er sich bewegte, war er kaum zu hören. Er erinnerte Sara an einen Unsichtbaren, der nur von Zeit zu Zeit und durch Zufall sichtbar wird: die Art, wie er sprach, wie er bestimmte Wörter betonte und am Ende des Satzes in ein Schweigen rollte.
    Manchmal meinte sie, er wäre ihre Erfindung, ein imaginärer Freund, den lediglich sie sehen konnte, so imitierte sie seine Art zu sprechen, ein Wispern, Rascheln von Wörtern, aber nur still war es möglich, dieses Geheimnis zu wahren, also schwieg sie, wenn sie allein war.
    Mikileraq beobachtet den Rauch, der, aus einem Schornstein befreit, kompakt durch die Luft schwebt, und sie fragt sich, ob sie trauern soll, und kommt zu dem Schluss, dass dies nicht notwendig ist, denn sie gab das Kind auf, sie gab den Sohn auf, von dem sie annimmt, dass es Per war, sie entschied sich gegen ihn und für eine Zukunft, ein Leben mit ihm wäre keines gewesen, und sie weiß, dass sie, als sie ihn aufgab, nichts aufgab.
    Sie lässt die Zigarette sinken, steckt sie

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