Anatomie Einer Nacht
sie wegsegeln würde, weit, weit weg –
plötzlich gefiel es ihr, zu beobachten, wie sich die Welt mit jeder wiedergefundenen Erinnerung veränderte, vervollständigte, und sie genoss es, ihnen nachzuspüren, als wären sie Pflanzen, die an verborgenen Plätzen wachsen, verstreut, da und dort waren sie zu sehen, manchmal lediglich die Blätter, Stacheln, Härchen, der Rest lag im Schatten. Als sie wusste, wie die Blume in ihrer Gesamtheit aussah, hörte sie auf, nach den Bestandteilen zu suchen: Sie hatte endlich das Dunkel entziffert.
Es ist kurz nach eins. Sara steckt die Tablette in den Mund und lässt sie auf der Zunge zergehen. Sie möchte die Bitterkeit schmecken, ehe sie sie schluckt.
2 Sie wickeln die Tücher um die Bettpfosten, machen einen Knoten. Setzen sich auf den Teppich, dicht an die Pfosten, schlingen die Enden jeweils einmal um ihren Hals und knoten sie unter dem Kinn zusammen. Sie arbeiten synchron, die Bewegungen sind koordiniert, geübt.
Magnus räuspert sich und schluckt.
Das sitzt wirklich fest.
Er lächelt.
Ole nickt aus Versehen. Hustet.
Sie sehen einander aus den Augenwinkeln an. Wagen es nicht, die Köpfe zu wenden.
Ich hätte das Licht löschen sollen –
flüstert Magnus, beginnt am Knoten zu nesteln, der sich widerwillig löst. Er steht auf, er steht unsicher, die Beine zittern ein wenig.
Er knipst das Deckenlicht aus, bleibt unschlüssig stehen.
Wir wollten Lars anrufen. Sollen wir das jetzt machen?
Ja.
Magnus greift nach dem Telefon, wählt Lars’ Nummer, lässt es so lange klingeln, bis sich der Anrufbeantworter meldet.
Er hebt nicht ab. Sollen wir ihm eine Nachricht hinterlassen?
Ich weiß nicht. Was meinst du?
Nein. Er wird mit deinem Messer und meinem Foto ohnehin nichts anfangen können.
Ole senkt den Blick.
Gut.
Magnus setzt sich wieder auf den Boden, rutscht zum Bettpfosten, nimmt den Schal, wickelt ihn um das Bettende und um seinen Hals, verknotet ihn unter seinem Kinn, Straßenlicht fällt auf die Wand, auf die Abbildungen, die Magnus aus Zeitschriften und Schulbüchern geschnitten hat, Fotos von unfassbarer Schönheit , wie er fand, bis vor einem Jahr, als er damit aufhörte, weil er sich nicht mehr erinnern konnte, warum er damit angefangen hatte. Es ist immer das gleiche Motiv: ein Sandstrand, im Hintergrund das Meer, so blau, dass es direkt in den Himmel überzugehen scheint, aber kein Horizont –
auf allen Bildern fehlt der Horizont.
Mikileraq weiß nicht mehr, wie sie in die Sportschuhe, in Jørns Jacke und auf die Terrasse kam. Dann entdeckt sie die Zigarettenschachtel in ihrer Hand sowie das Feuerzeug, und erinnert sich vage, dass sie murmelte, sie müsse eine rauchen, und schnell das Schlafzimmer verließ, bevor sich etwas in ihrem Gesicht spiegelte, das sie verraten würde. Er sah ihr verwundert nach, aber er wusste, dass sie sehr heftig reagieren konnte, und der Tod eines jungen Menschen genügte ihm als Erklärung. Er fragte noch, ob er sie begleiten solle, sie antwortete nicht.
Sie raucht nicht. Steht vor dem Haus und starrt in den Himmel. Sie kann gerade jetzt, gerade heute die Enge Amarâqs schwer ertragen.
Sie erinnert sich, dass sie sich als Jugendliche so sehr nach einem anderen, wie sie glaubte: freieren, Leben sehnte, dass sie die Zeitschriften aus dem Gepäck der Touristen klaute und die Fotos stundenlang betrachtete, als könne ihr Blick allein sie in diese Welt katapultieren. Wie wunderschön ihr all das erschien, was in den Magazinen erstarrt war, und diese Schönheit war unvergänglich. Vielleicht aber war es nicht Schönheit, die eingefangen worden war, sondern die Sehnsucht, die in all der Schönheit versteckt gewesen und für einen Moment an die Oberfläche gekommen war, einzig für das Auge der Kamera, und es war ihr unerträglich, dass sie das Schöne lediglich aus einem Heft kennen sollte.
Als sie sich bei einem Sturz den Arm brach, bot sich ihr ein Ausweg. Kein Sturz eigentlich, das hatte sie niemandem anvertraut, Sørensen hatte es dennoch gewusst, kein Sturz, sondern der klägliche Versuch, das Sehnen zu beenden und sich von der Sucht zu befreien, wie leicht war es ihr erschienen, in der Theorie. In der Praxis hatte sie die Furcht überwältigt und ausrutschen lassen, der Fall wurde abgefedert und bloß ein Knochen verletzt. Eigenartig, auf diesem Felsen auszurutschen und sich zu verletzen, sagte er, eigenartig bei einer so geschickten Person wie dir, und er streichelte ihren Oberschenkel, bei jeder Visite
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