Anatomie Einer Nacht
denn er beobachtet seinen Freund Morten, der eine Dose Bier in die Hand gedrückt bekommt und aus ihr trinkt. Er nähert sich ihm.
Hej Morten!
Hej Anders!
Morten lacht, schlägt Anders auf den Rücken, Anders zuckt zurück.
Kann ich auch?
Klar.
Morten gibt ihm die Dose. Anders nimmt einen Schluck, spuckt ihn aus. Morten wird in die Menge gezogen, Anders hört sie diskutieren, sieht sie in den Hosentaschen wühlen. Er schüttet das Bier weg, stellt die Büchse auf die Erde.
Komm jetzt!
Idi stupst Anders an. Anders ignoriert sie, lacht aber und winkt, als er Lars sieht.
Hej Lars!
Lars, der ihn immer grüßt, immer ein paar Worte mit ihm spricht, ignoriert ihn heute Nacht.
Komm endlich!
Idi verschwindet im Dunkel, und mit ihr Anders; von weitem hört er die Gruppe noch streiten.
In diesem Moment steht Per vor dem Haus seiner Kindheit und kann den Gedanken nicht abschütteln, dass alle Wege zu diesem einen Gebäude führen, zum Waisenhaus; dass die Straße, nein, dass ganz Amarâq so gebaut wurde, dass man auf dieses Haus zusteuern muss , selbst wenn man es nicht will und man noch so sehr versucht, ihm auszuweichen –
am Ende steht man doch wieder davor, vor der geschlossenen Tür.
Das Gewehr ist geladen.
Er hält den Lauf gegen seine Brust und drückt ab.
01:00 – 02:00
1 Die Illusion, glücklich zu sein an diesem Ort, der scheinbar mit drei Farben auskommt, Blau, Braun und Weiß, der bloß aus Wasser und Erde besteht, aus Fjorden und Bergen, aus Flüssen und Wolken, die ständig in Bewegung sind, so dass man, wenn man sich auf eine Beobachtung einlässt, mit der Zeit ihren Rhythmus entdeckt, ihren Atem, den Lauf einer Welt, die in ihrer Endlosigkeit dem Betrachter mit einer hartnäckigen Beständigkeit einflüstert, nichts anderes zum Leben zu brauchen als das, was man ist, somit einen auf sich selbst zurückwirft, auf eine Art und Weise, die so elementar ist, so brutal, dass sie einen bis auf die Knochen spüren lässt, was es bedeutet, unberührbar zu sein. Vielleicht ist es diese Unberührbarkeit, die nächste Stufe der Einsamkeit, die einem Angst einflößt, da sie den Anschein erweckt, diese Natur, die gerade aus ihrer Unerreichbarkeit Schönheit schöpft, wäre aus einem bestimmten Grund unberührt, doch dieser liege jenseits des Vorstellbaren –
nur manchmal, wenn sich die Wolkendecke hebt, das Licht der Sonne die Erde seziert, enthüllt sich die Stadt, entkleidet sie sich und wird je nach Anschauung detailreicher, farbiger, werden die Linien schärfer, die Konturen deutlicher, und etwas kommt zum Vorschein, das eine Sehnsucht stillt, von der man schon immer wusste, dass man sie besaß.
Amarâq ist sowohl ein Ort, der Sehnsucht entstehen lässt, als auch eine Projektionsfläche für jede Art Sehnsucht, weil ihm jede Eigenschaft zugeschrieben werden kann: Weil Amarâq alles ist, ist es zugleich nichts. Nichts, weil sich jeder in seiner Vorstellung von Amarâq bewegt und mit der Zeit die Fähigkeit verloren hat, das wahre Wesen der Stadt zu sehen.
So zog sie sich zurück und zeigt ausschließlich nachts, wie sie wirklich ist: wenn die Chronologie des Sehens aufgehoben ist. Im Schutz der Dunkelheit jedoch bleibt ihre echte Gestalt schemenhaft, skizzenhaft, so dass man lediglich vermuten kann, dass Amarâq ganz anders ist, aber festzustellen, worin diese Andersheit besteht, liegt jenseits des Vorstellbaren –
nur manchmal, wenn sich eine Wolkendecke bildet, die das Licht des Mondes gleichmäßig über der Erde bricht, verrät sich die Stadt, legt ihre Tarnung ab, und etwas kommt zum Vorschein, das eine Sehnsucht nährt, von der man nicht wusste, dass man sie besitzt.
Die Decke wirkt gebogen, wie in einer Höhle, auch die Wände laufen schräg aufeinander zu, und obwohl sie weiß gestrichen sind, haben sie die Farbe des Schattens angenommen, der in diesem Haus, auf diesem Flur heimisch ist, in den Ecken gezüchtet wird und von dort aus die Zimmer befällt. Feucht ist es hier, modrig, es riecht nach Regen, und wenn man genau hinhört, könnte man meinen, man höre Tropfen prasseln, denn die Zimmerdecke scheint bewölkt und immer einem Gewitter nahe. Still ist es, einsam, verlassen, unberührt die Oberfläche der Kommoden, Staub wächst in den Winkeln und auf der Sofahaut, die Kissen sind eingesunken, und zwischendurch tickt die Wanduhr, sie hinkt den Sekunden hinterher und doch bemüht sie sich, sie einzuholen, noch immer. Unter ihr lehnt eine Trommel, breit, aber flach, von der
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