Anatomie Einer Nacht
an den Rand der Matratze, gräbt ihr Gesicht ins Kopfkissen. Stellt sich schlafend, als sie den Schlüssel im Schloss hört, das Abtreten der Schuhe auf der Matte, die Schritte auf der Treppe, Jørns Schritte, sie würde seinen Gang jederzeit erkennen.
Miki? Schläfst du?
Sie atmet tief ein und aus, bemüht sich um Gleichmäßigkeit.
Miki, wach auf.
Sie überlegt, wie lange es möglich ist, dem Gespräch auszuweichen, sie weiß, er kann sehr hartnäckig darauf bestehen, seine Gedanken zu besprechen, die Ereignisse des Tages.
Schrecklich ist das, schrecklich.
Was?
Sie gibt nach, dreht sich ihm zu, langsam, umständlich.
Hast du den Schuss nicht gehört?
Nein.
Sie verbessert sich.
Vielleicht. Ich habe geduscht.
Jørn gleitet von der Bettkante, er geht auf und ab, während er spricht, die Hände sitzen mal in den Taschen, mal gestikulieren sie wild, wie unabhängig von den Worten, die er spricht.
Ein Selbstmord, mitten auf der Straße.
Sie versucht, sein Gesicht im Dunkel zu erkennen, das Licht, das durch die Jalousien fällt, reicht kaum aus.
Wer hat versucht sich umzubringen?
Er war nicht einmal zwanzig Jahre alt, oder gerade zwanzig.
Hat er überlebt?
Nein.
Die Nächte sind jetzt erfüllt von Wind und Zerstörung, erinnert sie sich gelesen zu haben, und sie ergänzt für sich selbst: Die Nächte haben sich gefüllt, der Sommer ist zerstört, die Winde kehren zurück.
Jørn setzt sich wieder neben sie. Plötzlich dreht er sich ihr zu, sieht sie lange an, unverwandt.
Er ist noch auf der Straße verblutet. Hat sich in die Brust geschossen.
Sie wendet sich ihm zu.
Wer?
Wie hieß er doch gleich?
Jørn trommelt mit den Fingern auf dem Kissen.
Per, glaube ich.
In diesem Moment gibt es bloß den einen Gedanken, den einen Satz, der in Mikileraqs Kopf immer lauter und lauter wird: Die Nächte haben sich gefüllt, der Sommer ist zerstört, die Winde kehren zurück.
Ein bewusstlos geschlagener Mensch unterscheidet sich äußerlich von einem schlafenden Menschen durch nichts, außer durch das Blut im Gesicht, selbst seine Haltung, zunächst noch gekrümmt, löst sich in der Bewusstlosigkeit auf. Der Schmerz, der im wachen Zustand im Körper wütet, wird vom erzwungenen Schlaf geschluckt –
und doch gibt es einen Unterschied, denn die Stille, die über Lars liegt, ist eine andere. Sie ist lauernd, als wüsste sie genau, dass sie jederzeit durchbrochen werden kann, denn sie ist unnatürlich. Sie hinterlässt Spuren, und dies ist ihre Achillesferse, sie ist viel zu sichtbar, darin liegt ihre Zerbrechlichkeit und Endlichkeit.
Wenn Lars erwacht, wird sie zerstäuben, dann aber wird der Schmerz ihren Platz übernehmen, und erst, wenn er ihn abgeschüttelt hat, wird er aufstehen können, die Füße aufsetzen und die ersten Schritte gehen, denn er wird sich erinnern, dass er etwas Wichtiges vorhat –
er wird sich beeilen, obwohl jeder Schritt eine Qual ist, aber ein Bild wird ihn zum Laufen bringen, eines, das sich hinter seiner Traurigkeit verbirgt. Er fürchtet, dass es sich wiederholen wird, aber er glaubt, dass er dies verhindern kann, also rennt er trotz der Schmerzen, er rennt, weil er Magnus und Ole retten will, und vor allem sich selbst.
Anders und Idi kommen am Buchgeschäft vorbei, das Emilia durch einen Anbau aus Holz vergrößern ließ. Er kam mit der üblichen Ladung Baumaterial mit Sommerbeginn aus Island gesegelt und ist halb so groß wie das ursprüngliche Häuschen, in dem es nicht nur Bücher gibt, sondern auch eine Theke mit Süßigkeiten, französische Kaffeetische aus schwarzem, geschwungenem Stahl und eine Tiefkühltruhe, die ausschließlich Äpfel und Birnen beherbergt, daher auf Sommertemperatur läuft, einer Temperatur, die Emilia nach jahrelangem Experimentieren als optimal befand, um eine möglichst lange Haltbarkeit und Genießbarkeit der Früchte zu erreichen.
Emilia ist groß, riesig nach ostgrönländischen Maßstäben, und blondgelockt, die Locken sind rund und breit, so dass man durch jeden einzelnen Kringel hindurchsehen kann. Ihr Gang erinnert an ein Schiff, das sich durch wütende Wogen kämpft, aber ihre Stimme ist so leise und heiser wie die der Großmutter, die sich, nachdem sie jahrelang in die Ohren ihrer Umgebung geschrien hat, von einem Tag auf den anderen in sich zurückzog. Emilia hieß früher Emil und war Richter in Dänemark, bevor sie nach Amarâq kam, um die zu sein, die sie in Århus nicht hatte sein können. Sie lebt allein, hier am Ende der Welt, und
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