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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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zurück in die Packung, klopft die Erde von den Sohlen. Sie wird sich zu Jørn ins Bett legen, sie wird schlafen, nichts wird sie aus der Ruhe bringen, die sie sich erlog, als ihre Tante sie fragte, wer der Vater des Kindes sei, und sie antwortete, und es erschien ihr damals nicht als Unrecht, denn er hatte sich einen Tag zuvor umgebracht, dass es Iven sei. Ihre Tante bemitleidete sie und beklagte es nicht, dass sie das Kind aufgeben wollte.
    Warum bin ich zurückgekommen, fragt sie sich, während sie die Jacke an den Haken hängt, sie hatte nichts anderes gewollt, als wegzugehen, warum die Reise zurück, warum der Entschluss, sich an dem Ort anzusiedeln, den hinter sich zu lassen sie nicht hatte erwarten können?
    Jede Nacht stand ein Bild vor ihren Augen, die Ebenen, so unüberschaubar, so unendlich weit, und anfangs wunderte sie sich über sich selbst, sie hatte nicht damit gerechnet, die Heimat zu sehen, doch mit der Zeit wandelte sich das Bild, es begann sich zu bewegen, zu der Ruhe der Täler kam das Geräusch des Wassers, schließlich die Klänge des Windes, und ab diesem Moment stand Mikileraq nicht mehr am Rand des Hügels und sah den Abhang hinab, sondern sie breitete die Arme aus und flog über ihn hinweg.
    Diese Art von Freiheit suchte sie vergeblich in Dänemark, eine Freiheit, deren Ursprung in der Unendlichkeit liegt –
    mutierte Endlichkeit: Hinter jedem Berg, hinter jedem Anstieg lauert ein Ende, eine Steilküste mit einem Abgrund, der in etwas führt, das noch keinen Namen trägt, von dem jedoch ein Schweigen ausgeht, das in alles kriecht, was zu Amarâq gehört, und sich schließlich in Ungerührtheit verwandelt, in gefrorene Zeit, sie vergeht, da gefroren, unendlich langsam.
    Amarâq gaukelt Unendlichkeit vor, weil die Natur, die es umgibt, alles in seiner Nähe Befindliche mit ebendieser ansteckt. Der Teil Amarâqs, der Stadt ist, ist unendlich, weil sich nichts in ihm jemals ändert. Die kleinen Veränderungen, die passieren, verändern nicht den Zustand der Dinge, jede Veränderung wird von der Zeit verschluckt und bleibt unbemerkt. Selbst die Existenz des Menschen ist unendlich, da das Individuum und die Gemeinschaft eins sind und der Einzelne unsterblich durch die Gruppe –
    Magnus lässt sich zuerst in die Schlinge fallen. Drückt seinen Rücken durch, die Schultern fallen nach vorne, der Kopf hält sein Gewicht, noch. Ole beobachtet seinen Freund beim Sterben, unfähig mitzumachen, wie es abgesprochen war, aber auch nicht fähig, die Augen abzuwenden. Nun, da die Gefriertruhe aufgehört hat zu brummen, füllt der Tod den Raum und erzeugt eine Enge, die es noch einmal so schwer macht, aufzustehen, die eigene Schlinge zu lösen und die des Freundes. Stattdessen starrt Ole auf Magnus, den kleinen Magnus, wie er in Amarâq genannt wird, doch er sieht ihn längst nicht mehr, seine Augen haben ihre Funktion aufgegeben, und nicht nur sie, sein ganzer Körper ist erblindet.
    Die Schulküche ist eine Höhle aus Schnee und Eis, der Schnee lediglich fester, weißer, glatter, das Eis bläulich, seine Oberfläche trocken und warm, und hinter den Eisfassaden liegt der Wintervorrat in Papierpaketen und Dosen, eingewickelt in Zellophan oder in Plastikbeuteln, die verschneiten Ebenen aber sind leer, unberührt. Es ist hier leicht, seine Spuren zu verwischen.
    Anders liegt auf den weißen Fliesen und starrt zur Decke, er blinzelt, denn er meint, schneeblind zu werden bei all dem Weiß, das ihn umgibt, zugleich wächst während des Zwinkerns die Arktis weiter, wird bevölkert von Tieren, die sich, noch zu scheu, erst später zeigen werden, Pflanzen, winzig kleine, verdeckt vom Schnee, schlafend, wartend auf den Frühling, arktischer Mohn, gelbblütig, Glockenblumen, blaublütig, schwarze Krähenbeeren, die dunkelroten Blüten der Rauschbeere und Wollgräser mit wuscheligen Köpfen, und er fügt Geräusche hinzu, verschiedene Schattierungen polarer Stille, Abstufungen von Wassergeräuschen, das Tosen, Plätschern, Pritscheln und Tropfen; schließlich ist seine Welt fertig.
    Wenn er auf die Decke blickt, spürt er den Wind und die Kälte, die sich durch seine Jacke frisst, aber nicht bei den Finger- und Fußspitzen beginnt, sondern am Rücken und sich von dort bis zu den Zehen vorarbeitet, als Erstes jedoch durch die Haare in den Kopf eindringt und ihn schläfrig macht, und Anders denkt, ich schlafe gerne im Winter, dann schläft es sich anders, etwas leiser ist es, es dominieren vereinzelte Wolkenstimmen,

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