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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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Magnus’ Großmutter erzählte, sie habe seiner Urgroßmutter Frida gehört und sei hervorgeholt worden, wann immer der Pastor weggefahren sei, in eines der umliegenden Dörfer, um die Messe abzuhalten, oder nach Kopenhagen, um über die im Wachsen begriffene Schar der Gläubigen zu berichten, dann habe man ihm vom Hafen aus zugewunken und kaum sei er aus dem Blickfeld verschwunden, habe man begonnen, die Trommel zu schlagen, und es habe tagelang nichts anderes gegeben als Tanz und Gesang.
    Das Leben habe sich normalisiert, für eine begrenzte Zeit, seufzte Kiiki und befingerte die Knöpfe des Radios, das noch ihre Eltern gekauft hatten und das in ihrer Kindheit jeden Tag gesprochen oder gesungen, von allen Ecken Grönlands berichtet hatte, nun aber, selbst wenn der Lautstärkeregler bis zum Anschlag aufgedreht war, schwer zu verstehen war: die Laute zusammengeschrumpft auf ein Wispern –
    wie Kiiki selbst bloß noch ein Laut ist, ein Raunen aus jener Ecke des Raumes, die am weitesten vom Fenster entfernt ist, versteckt zwischen den Bücherregalen, die noch nie Bücher gesehen haben, dafür Zierteller mit blauen Zeichnungen vom dänischen Königspaar und von Singvögeln, ein schwarzer Gesang, so beschrieb einmal Magnus Kiikis Atmen, das die Melodie immer wieder unterwandert und mehrere Stimmen enthält, aber von nur einem Mund gesungen wird. Es wird von ihren Händen dirigiert, die sich zum Auf und Ab der Töne bewegen, und manchmal meint Magnus zu erkennen, dass Kiiki im Traum näht oder strickt, während sie die Geister begrüßt, die die Löcher im Stoff als Korridor in die menschliche Welt benutzen, und er erinnert sich, wie wichtig es Kiiki war, ihre Familie stets richtig gekleidet zu sehen, es sei lebenswichtig , betonte sie und erzählte von Frida, die die neuerbaute Kirche stets in einem Nachthemd reinigte, das von der Pastorsfrau ausgemustert worden und auf diese Weise in Fridas Besitz gelangt war, ein gelbes Kleid mit Rüschen und Schleifen, allerdings zu durchsichtig, um es nicht über dem Alltagsgewand, der zerschlissenen Hose und der mit Flecken übersäten Bluse, zu tragen; perfekt getarnt für die Kirche, so sah es Frida, praktisch unsichtbar inmitten der feinen, dänischen Sonntagsgewänder. Kiiki nähte Frida vor ihrem Tod noch ein Kleid und brachte an der Innenseite so viele Knöpfe wie möglich an, denn jeder einzelne würde den Übergang in die nächste Welt vereinfachen.
    Sie revanchierte sich: Frida hatte Kiiki als Kind immer in Bubenkleidung gesteckt, denn Kiiki war kränklich gewesen, und verkleidet als Junge, hatte Frida gemeint, würde der Tod sie nicht erkennen.
    Als Kiiki vor einem Jahr krank wurde und es klar war, dass sie sich nicht mehr erholen würde, beschloss Kuupik, sie zu Hause zu pflegen. Die ersten Monate verbrachte er im Wohnzimmer auf der Couch neben ihrem Bett, und bei jedem Geräusch richtete er sich auf und beobachtete gespannt ihr Gesicht: Wenn sie schlief, strich er kurz mit den Fingerkuppen über ihre Lider und Nase, erst dann legte er sich wieder schlafen. Tagsüber saß er ihr gegenüber und wartete auf einen Blick von ihr, das Aufeinandertreffen ihrer Augen, eine Begegnung, die ihm für den Rest des Tages genügen würde. Doch diese Treffen wurden weniger, Kiikis Augen leerten sich, sie selbst tauchte in ihnen kaum noch auf, Kuupik versuchte sie herbeizurütteln, an den Schultern, am Kopf, die Augen zum Öffnen zu bewegen, aber selbst dann lag in ihnen ein Dunst, der alles verdeckte; schließlich konnte ihr Blick nur noch enthüllen, dass es nichts mehr zu verdecken gab, denn Kiiki war gegangen, lange schon.
    An diesem Tag packte Kuupik seine Sachen und zog ins Schlafzimmer. Er versorgte den Körper seiner Frau, wusch ihn, fütterte ihn, behandelte die rauen Stellen der Haut, lagerte ihn um, jede Stunde, aber er suchte nicht mehr den Kontakt. Er sah sie nicht, auch wenn er sie berührte: als wäre die Kranke schon tot. Dabei vergaß er, sich selbst und seine Familie zu versorgen. Die Tage, an denen Magnus auf die Essensrationen in der Schule angewiesen war, wurden häufiger. Kuupik zog sich immer mehr in einen Kokon zurück, in dem nichts anderes Platz hatte als die Vergangenheit. Die Gegenwart, den Schmerz, sperrte er aus –
    und mit ihm seinen Enkel.
    Magnus presst sein rechtes Ohr an die Zimmertür seines Großvaters und lauscht.
    Er flüstert: Wir können anfangen. Er schläft.
    Das Bett ist leer, Jørn ist nicht da, Mikileraq kriecht unter die Bettdecke, dicht

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