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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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das Rauschen der Luft ersetzt das Rauschen des Fjordes, und die Kühle des Eises drückt sich durch die Kleidung in den Körper und friert die Gedanken ein –
    und er streckt sich, spreizt die Beine, breitet die Arme aus, versuchshalber, sie sind übersät mit blauen Flecken, Schrammen, Quetschungen, und an seinem Hals ist eine Narbe zu sehen, der verheilte Abdruck eines Stricks.
    Henning war es, der Saras Leben eine Chronologie gab, der es Stück für Stück zusammensetzte. Als Däne öffneten sich ihm Türen, von denen Sara nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierten. Er stöberte in den Archiven, ließ sich unter Verschluss gehaltene Dokumente vorlegen, indem er den Verantwortlichen seinen Studentenausweis unter die Nase hielt und erklärte, er betreibe Eskimostudien in diesem Sackgassenhaus in der Strandgade, Sie wissen schon, das nächste saubere Klo für die Verrückten in Christiania, Henning senkte seine Stimme verschwörerisch, natürlich, breites Grinsen, hier hast du, aber lass es ja nicht herumliegen. Diese Papiere erklärten, wer Saras Großeltern gewesen waren, außerdem, wer Edvard und Kunna ermordet haben könnte.
    Schon 1977 war Qertsiak stark geschrumpft, weil die Bevölkerung in Scharen, so sahen es zumindest die Bewohner Amarâqs, in die Hauptstadt zog, in der Hoffnung, vor Ort Arbeit zu finden oder in den Westen gebracht zu werden, wo sie in einer der zahlreichen neuen Fischfabriken angestellt wurde. Dänemark hatte vier Jahre zuvor in einem Referendum gegen den Willen Grönlands für den Beitritt in die Europäische Gemeinschaft gestimmt, seither hatte es eine Auflage nach der anderen für grönländische Fischer und Jäger gegeben, so dass in diesen Tagen, vor allem im Osten Grönlands, diejenigen, die entweder nicht anders konnten oder wollten, die Reste der Gesellschaft, so wurden sie genannt, die Unverbesserlichen , in den Dörfern aufgefangen wurden, als wären es Siebe für alle Asozialen.
    In Qertsiak blieben lediglich fünf Familien übrig, ein Clan, der alle und alles kontrollierte, und Kunna. Kunna war die Letzte ihrer Familie, ihre Geschwister, Eltern und nahe, aber auch ferne Verwandte waren im Lauf der Zeit gestorben, viele an Krankheiten und viele, vor allem der männliche Teil, so glaubte sie, waren Opfer der Blutrache geworden. Dass sie und die vermeintlich rachsüchtige Familie Nachbarn waren, ließ Kunna gleichgültig, denn sie glaubte sich durch ihre Heirat mit dem Dänen, der sie und ihre Landsleute trotz allem und mit großem Genuss als Wilde bezeichnete, sicher –
    diese sahen es anders: Kunna hatte sie verraten.
    Eines Tages schlich ein Schüler Edvards und Mitschüler Konrads auf das Schiff und erschoss mit der Mørch’schen Faustfeuerwaffe das Ehepaar und, nachdem er in eine abgelegene Bucht gefahren und an Land geklettert war, in den Bergen, im Schutz der menschenhohen Steine auch sich selbst. Man entdeckte den Toten kurz vor Kristina Olsens Abreise und versuchte den Fund vor der Pathologin geheim zu halten, doch diese riskierte es, eine weitere Woche in Qertsiak festzustecken (das Frachtschiff wollte nicht warten), und führte die Autopsie durch, aus der sie schloss, dass die drei Todesfälle aufgrund des Todeszeitpunkts und der Art der Schusswunden wahrscheinlich zusammenhingen.
    Familie Tukula schien der Tod des ältesten Sohnes nicht zu berühren, sie kämpfte weiterhin für die Unabhängigkeit Grönlands; an Todesfälle war sie gewöhnt.
    Das Fenster ist gekippt, im Moment ist es windstill. Die Kälte dringt langsam ein, Zentimeter für Zentimeter, dann kommt der Abendwind auf, zerbläst den Wolkenvorhang, und der Mond taucht den engen Raum in bläulich weißes Licht, das, in Finger verwandelt, nach Magnus und Ole greift, man könnte glauben, es hätte die Holzdecke aufgebrochen.
    Sobald der Atem des Windes verklungen ist, jaulen die Hunde, ausgesetzt an den Ufern des Flusses, sie leben in Erdlöchern und singen im Rudel, angesteckt vom Solisten, dessen Gesang, noch vereinzelt, noch dünn, zur Dunkelheit gehört wie das Rauschen des Windes und die Unsichtbarkeit: Die Nacht lässt vieles zu, was im Tageslicht unmöglich erschien, auch das Sterben –
    als stürbe es sich im Finstern leichter, im Licht muss man sich dafür schämen.
    Ole lässt sich in die Schlinge fallen.

3    Mikileraq begegnete Iven am Hafen, er vertäute sein Boot, blickte kurz auf, als sie vorbeiging, und grüßte. Sie zögerte kurz, bevor sie seinen Gruß erwiderte, dies war das

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