Anatomie Einer Nacht
in dieser Art von Nacht, die in ihrer Überschaubarkeit so vertraut ist, dass es möglich ist, in ihr zu rennen und sich im Laufen zu vergessen –
nicht wie in der ungezähmten Nacht, in der jeder Schritt ein Wagnis darstellt.
Auch was den Ursprung der Blutrache betraf, hatte Henning eine Theorie. Er schilderte sie Sara, während sie zwischen den grasenden Enten im Garten von Schloss Rosenborg spazieren gingen.
Sie hatten in der Bibliothek zu wispern begonnen, waren aber vom Bibliothekar, einem Hünen mit wallenden weißen Haaren, aus der Stille und Wärme vertrieben worden, vorwurfsvolle Blicke hatten sie zum Ausgang begleitet. Sie waren dem Verlauf des Kanals gefolgt, zuerst in die falsche, dann in die richtige Richtung, hatten sich durch das Labyrinth des Stadtkerns gearbeitet, immer der Nase nach, und, verführt vom Kaffeegeruch, eine Pause eingelegt.
Im späten achtzehnten Jahrhundert, erzählte Henning, während er in der Tasse rührte, lebte im Südwesten Grönlands ein Mann namens Habakuk, ein erfolgreicher, in seiner Siedlung angesehener Jäger, der eine nach der noch immer recht jungen Religion verbotene Affäre mit seinem Hausmädchen hatte. Früher hätte er sie zu seiner Zweitfrau gemacht, als Protestant war ihm dies nicht erlaubt, und er musste vorsichtig sein und die Liebschaft tarnen. Als seine Frau Maria Magdalena sagte, sie könne ihn nicht auf die Jagd begleiten, sie müsse sich um ihren Sohn, damals noch ein Säugling, kümmern, war Habakuk damit einverstanden, er liebkoste den Knaben, versicherte, er verstehe das, er werde Kara an ihrer Stelle mitnehmen, denn er brauche Hilfe beim Zerlegen der Beute. Von diesem Moment an war Kara seine Jagdbegleiterin, und das Paar verbrachte Monate in der Einsamkeit Westgrönlands.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieses Arrangement aufflog, üblicherweise hielten Geheimnisse dieser Art bis zum sechsten Monat, wenn sich die Schwangerschaft nicht länger verbergen ließ, in diesem Fall fand außerdem eine übernatürliche Intervention statt –
Maria Magdalena sah einen Geist: In einer Vision erschien ihr die Seele Margarethes, einer erst kürzlich verstorbenen Geschichtenerzählerin, so fromm, dass sie nach ihrer Taufe ihr Talent ausschließlich für das Nacherzählen von Szenen aus der Bibel eingesetzt hatte, und so begnadet, dass an diesen Tagen keine Menschenseele auf dem Dorfplatz anzutreffen gewesen war, sondern sich das ganze Dorf in ihrem Haus versammelt hatte. Margarethe hatte ihre Popularität jedoch weniger ihrem schauspielerischen Talent zu verdanken, als ihrem Namen, der, so erzählte man sich, einer Frau gehört hatte, die der als Drache verkleidete Teufel mit glühenden Ruten gefoltert und der er das Fleisch von den Knochen geschält hatte; in einer anderen Version war die gefolterte Margarethe vom Teufel in Drachengestalt kurzerhand verschlungen worden.
Dass ihre Namenspatronin die Schutzheilige für alle Schwangeren und Gebärenden war, hatte Margarethe in den Augen der Dorfbewohner göttlich gemacht; dass der Missionar den Namen deswegen ausgewählt hatte, weil Margarethe zur Hebamme ernannt worden war, hatten alle vergessen, für sie war sie die Reinkarnation einer Heiligen und als solche unantastbar.
Taumelnd vor Glück und Ekstase, lief Maria Magdalena durch die Siedlung und rief, sie habe beim Heidelbeerpflücken eine Botschaft empfangen, Margarethe habe ihr gesagt, dass die Toten nicht sofort ins Totenland kämen, sondern in ein Übergangsreich, das sich zwischen Himmel und Erde befinde und aus dem sie wieder ins Reich der Lebenden zurückkehren könnten, wenn es ihnen Gott befehle. Margarethe sei zurückgeschickt worden, um ihr, Maria Magdalena, zu sagen, dass jemand Nahrung verstecke und ihren Mann Habakuk verführe, Unzucht, schrie Maria Magdalena, es herrsche Unzucht und sie sei nicht die Einzige, die davon betroffen sei! Schuld sei diese Frau, sie habe das Böse in die Siedlung gebracht, und sie schrie, das Böse, und ließ sich auf die Knie fallen. Sie danke dem Himmel, rief sie, sie danke ihm, denn er habe ihr den Namen dieser verruchten Person verraten, sie wisse nun, wie sie das Böse ausmerzen könne, denn sie wisse, wer das Böse sei. Kara, brüllte sie, Kara, und die Bewohner, die sich um Maria Magdalena versammelt hatten, brüllten mit ihr, Kara, und die Prophetin griff nach ihrem Stab, den sie stets bei sich trug, denn er enthielt einen Helfergeist, dem Pastor hatte sie nichts davon erzählt, er hätte ihn ihr
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