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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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Ramsch habe akzeptieren müssen, der doch bloß als Dekoration an der Hauswand endete, malerisch drapierte Regenschirme, Kartoffelstampfer und Gemüsereiben, sei ihm diese Welt verschlossen geblieben.
    Aber auch ihnen habe der Plunder Rätsel aufgegeben, seufzte sie, vor allem der Kartoffelstampfer, der bis ins zwanzigste Jahrhundert ein sinnloses Dasein gefristet und erst von ihrer Mutter zum ausrangierten Röhrenfernseher in eine Kiste gestopft worden sei, und mit diesen Worten schlüpfte sie wieder in ihre Winterjacke und nahm die Wäsche von der Leine, die zwischen zwei Steinen befestigt war, gerade hoch genug, damit die Unterwäsche nicht am Boden schleifte. Später zog sie in den Westen, und man erzählte sich, dass sie in der Hauptstadt ein Café namens Hongkong eröffnet hatte, ein blaues Häuschen, auf dessen Dach ein gelbes Schild saß mit einer kleinen grinsenden Asiatin mit zwei Rattenzöpfen, einer Schüssel Reis und einem dampfenden Huhn. Hongkong war für sie das, was für ihre dänischen Gäste die Karibik war: ein Sehnsuchtsort, unerreichbar, geheimnisvoll und magisch. Und wenn der Schneesturm die Stadt für einige Stunden ausradierte, nicht dem Erdboden, sondern dem Himmel gleichmachte, glaubte sie, die Wolkenkratzer, Werbetafeln und Lichter Hongkongs zu sehen –
    Fernweh ist, obwohl das Gegenteil von Heimweh, dennoch sein Zwilling.
    Anders steckt den Schlüssel ins Schloss, dreht ihn zweimal im Uhrzeigersinn, es knackst, die Tür öffnet sich, Idi wirft Anders einen Blick zu, kichert und schlüpft ins Innere.
    Es ist dunkel. Anders schaltet alle Lampen auf einmal ein. Ein Surren hebt an, als würde sich ein Bienenschwarm nähern.
    Idi läuft durch die Regalreihen, greift nach einer Packung Lakritze in der Süßigkeitenabteilung, bleibt bei den Mixern, Toastern und Nähmaschinen stehen, eine ähnliche hat ihre Mutter vor drei Jahren gekauft, sie stottert noch heute den Kaufpreis ab. In der Zwischenzeit hat es sich Anders beim Bier gemütlich gemacht. Er öffnet die erste Dose.
    Tobias Boest schüttelt den Kopf.
    Lars beharrt darauf, er habe etwas gespürt, den Puls, er habe den Puls gespürt, ganz sicher, noch keine drei Minuten sei das her, aber der Arzt schiebt ihn von sich, nimmt seine Tasche und steigt ins Erdgeschoss –
    obwohl Lars auf ihn einredet, ihn anfleht, ihn zu seinem Auto begleitet, den Fuß in die Tür klemmt, damit er sie nicht schließen und davonfahren kann, weigert sich Boest, die Kinder weiter zu untersuchen, er könne nichts mehr für sie tun.
    Gehen Sie nach Hause. Sie haben getan, was Sie konnten.
    Dass sie heute Nacht Kopfschmerzen hat, wundert Sara. Sie bricht eine zweite Tablette aus dem Plastik, während sie sich an den Schreibtisch setzt, nach dem Tagebuch greift und eine neue Seite aufschlägt.
    Das Papier ist gelblichgrau, dick, weich, es saugt die Tinte gierig auf, eine Patrone ist schnell verbraucht, ausgetrunken , wie Sara sagen würde. Es ist fast so, erklärte sie den Vorgang des Schreibens einer Fremden im Zug, als würde ich das Papier tätowieren, wenn ich es beschreibe, sie hätte gerne hinzugefügt, dass man Geschriebenem nicht trauen dürfe, die Fiktionalisierung setze ein, sobald sich ein Satz im Kopf forme und ins Papier geritzt werde. Gerade in einem Tagebuch oder Brief, hätte sie gerne gesagt, spricht ein fiktives Ich, die dramatisierte Version meiner selbst, die niemals genau das wiedergibt, was ich in diesem Moment spüre, aber, hätte sie gesagt, bin ich nicht das, was ich fühle? Stattdessen schwieg sie, betrachtete die Bäume am Rand des Gleisbetts, das dunkle Grün, durchsetzt von hellgrünen Spitzen, Frühling, und wie sich diese grünen Gestalten verwischen ließen, einfach so, aber wie sie in dieser Bewegung lebendiger aussahen als je zuvor –
    als zeigten sie jetzt ihr wahres Gesicht.
    Sie war auf dem Weg nach Nyborg, ins Ferienhaus der Familie Lund. Bis vor kurzem hatte sie es als ihr Zuhause angesehen, ein Stück heile Kindheit, das ihr niemand nehmen konnte, so hatte sie gedacht, bis Henning begonnen hatte, ihre grönländische Familiengeschichte auszugraben, die Auswanderung in den Osten, immer die Küste entlang; von den zwanzig Personen, die losmarschiert waren, kam lediglich eine ans Ziel. Ihr Urahne ließ sich in der Nähe Amarâqs nieder, zu einer Zeit, als es Amarâq noch nicht gab. Sein Urenkel wurde Kapitän auf einem der ersten Schiffe, die von Amarâq aus in den Westen fuhren, im Sommer, wenn das Packeis gebrochen und eine

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