Anatomie Einer Nacht
erste Mal, dass er sie ansprach. Normalerweise hätte sie ihn ignoriert, denn sie war zu schüchtern, um mit Fremden zu sprechen, doch sein Blick hielt sie fest, zwang sie, etwas zu erwidern, vielleicht war es die Dringlichkeit, mit der er sie ansah, als hätte er ihr etwas Wichtiges zu sagen. Sie murmelte hej und ging schnell weiter, mit abgewandtem Blick, beschämt, dass sie sich so linkisch benommen hatte.
Vier Tage später fand sie heraus, dass die Übelkeit, die sie morgens minutenlang ins Bad sperrte, eine Nebenwirkung der von Sørensen verschriebenen Schwangerschaft war; am selben Abend, nachdem sie auf dem Heimweg vom Krankenhaus gehört hatte, dass sich Iven in der Nacht zuvor erhängt hatte, gestand sie ihrer Tante, dass sie ein Kind erwarte, aber dass sie es nicht behalten werde, denn sie wolle in Kopenhagen studieren. Was der Vater des Kindes dazu sage, fragte die Tante. Nichts, antwortete sie, und ehe sie es überdenken konnte: Er ist tot.
Erst als die Schwangerschaft schon so weit fortgeschritten war, dass eine Abtreibung nicht mehr in Frage kam, begann sie sich Sorgen zu machen, was wohl geschehen würde, wenn man entdeckte, dass das Kind wie ein Däne aussah. Ihre einzige Sorge war, Sørensen zu schützen, nur dann würde er sein Versprechen halten. Sie tröstete sich damit, dass sie selbst einen hellen Teint und eher europäische Gesichtszüge hatte, man sich also das Aussehen des Säuglings so erklären könnte, und überhaupt, dachte sie, Neugeborene sehen alle gleich aus, und später, später würde es sie nicht mehr kümmern, denn sie wäre entkommen.
Sie wird das Licht nicht anknipsen, sie fühlt sich in der Dunkelheit wohl. Sie öffnet den Küchenschrank, räumt Töpfe und Pfannen heraus, stapelt sie auf der Theke. Greift in die hinterste Ecke und holt ein Päckchen hervor, eingewickelt in ein braunes Kuvert. Sie befühlt die Verpackung, aber lässt sie verschlossen.
Lars kann sich nicht dazu entschließen, an Kuupiks Haustür zu klopfen, was, wenn er sich alles eingebildet hat und die Jugendlichen friedlich schlafen, was, wenn er dem Alten, der ohnehin durch die Krankheit seiner Frau mitgenommen ist, zusätzliche Sorgen bereitet, was, wenn …?
Er umrundet das Haus, sieht hinauf zu Magnus’ Fenster, es ist dunkel, und er denkt, dass dies ein gutes Zeichen sei, das Licht würde wohl noch brennen, hätten die zwei getan, was er befürchtet, und er dreht sich um und will wieder nach Hause gehen, er glaubt, sich von der Harmlosigkeit der Situation überzeugt zu haben, vielleicht glaubt er auch, Opfer eines Streiches geworden zu sein, als er doch einen Blick durch das Küchenfenster riskiert und die Schuhe bemerkt, einzelne und Paare, wild durcheinandergeworfen, Sockenknäuel, Tücher, Kleider und Bücher bedecken den Boden, so dass er den Schluss ziehen muss, es habe einen Kampf gegeben, zumindest eine Auseinandersetzung, und doch kurz klopft, zaghaft zunächst, dann mutiger, kräftiger, und schließlich, als er noch immer keine Antwort erhält, die Tür öffnet und eintritt.
Ein leises Pochen aus dem ersten Stock, eine Spur zu unauffällig, zu bedacht auf Tarnung, dringt an seine Ohren. Fast hätte er es überhört, abgelenkt durch den Teich von Gegenständen, durch den er watet, dann aber schießt es ihm durch den Kopf, dass der Laut aus Magnus’ Zimmer kommt und es genau die Art von Geräusch ist, die er verhindern wollte.
Er hastet die Stufen hinauf.
Idi strolcht in der Küche herum, öffnet den Kühlschrank, holt eine Packung Orangensaft heraus, setzt die Öffnung an den Mund, nimmt einen großen Schluck und stellt sie wieder zurück. Lässt sich zu Anders auf den Boden fallen.
Hej. Gehen wir?
Anders antwortet nicht, er liegt auf den Fliesen vor der Glaswand, der Oberkörper leicht aufgerichtet durch die aufgerollte Jacke.
Mir ist langweilig.
Idi legt sich neben Anders, versucht die Jacke unter ihm hervorzuziehen, Anders rutscht ab, Idi lacht, sie ringen um den Anorak, der Ärmel reißt ein.
Scheiße.
Ich näh’s dir.
Du kannst nähen?
Anders steht auf, inspiziert den Riss.
Es geht schon, es wird niemand merken, wer auch.
Anders geht voraus, lässt die Tür in Idis Gesicht fallen.
Au, pass doch auf!
Pass du doch auf –
und eine Verfolgungsjagd beginnt, Idi jagt Anders durch die Schulkorridore, ihre Schritte hallen zwischen den Mauern, ihre Schatten, mit Dunkelheit ausgemalte Schablonen, überholen sie auf den weißgestrichenen Wänden, und es läuft sich viel besser
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