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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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abgenommen und verbrannt wie alles andere, was seiner Ansicht nach heidnisch war.
    Sie nahm ihren Stock, sagte Henning, sie packte fest zu, sie spürte die Furchen des Holzes auf ihrer Handfläche, als sie sich leicht auf ihn stützte, während sie in ihre Hütte ging, Kara an den Armen packte, vor die Tür zerrte und vor den Augen des Dorfes auf das Mädchen eindrosch, bis es tot zu Boden fiel.
    Erst jetzt ließ sich Maria Magdalena selbst auf die Erde sinken, sie legte sich hin, räkelte sich mit geschlossenen Augen und empfing eine zweite Vision, der eine dritte, eine vierte und eine fünfte folgten, und alle diese Visionen waren ansteckend, sie breiteten sich aus, bald wurden die wundersamen Klänge, das Lachen und Kichern der Toten, die sie begleiteten, nicht bloß im Südwesten vernommen, sondern auch im Norden und Osten Grönlands, und es blieb nicht bei den Stimmen, sondern die Toten wurden dabei beobachtet, wie sie auf die Erde herabstiegen, während sie Lieder sangen und Glocken läuteten –
    ihre Seelen schwebten über Schnee und Eis, unter Abertausenden von funkelnden Sternen am pechschwarzen Himmel, in einer Stille, die durch nichts gebrochen werden konnte.
    Maria Magdalena war deine Vorfahrin, sagte Henning, und Kara die verfeindete Tukula.
    Das Wasser fließt langsam in den Becher, in einen Plastikbecher, viel zu groß für Maja, obwohl Mikileraq ihn extra für sie gekauft hat, denn das Mädchen fürchtet sich vor Glas. Es glaubt, dass sich im durchsichtigen Material Ungeheuer verstecken, Jørn erzählte ihm von Ajumaaq, der mit seinen glatten, schwarzen Beinen in die Häuser huscht und alles, was er berührt, tötet, und von seinem Gefährten, dessen Haare in Stacheln vom Körper abstehen und der seine überlangen Arme sowie seine sechs Finger benutzt, um traurige Gedanken abzuwürgen. Majas Monster ist unsichtbar, schüttelt aber seine Unsichtbarkeit ab, sobald sie zu trinken beginnt, hängt sich dann an ihre Zunge und beißt so oft zu, bis diese durchlöchert ist und sie nicht mehr sprechen kann.
    Nie wieder –
    aber Maja, unterbrach Mikileraq sie lachend, woher hast du diese seltsamen Geschichten, und während sie ihr in ihren Armen Unterschlupf gewährte, lediglich diese Art der Umarmung ließ das Mädchen zu, erforschte sie sein Gesicht, die Augen, die eine Ernsthaftigkeit in sich trugen, die sie nie verlieren würden, dachte Miki.
    Sie hatte sich zunächst geweigert, ihren Sohn im Arm zu halten, ihre Meinung aber kurz nach der Geburt geändert, ein einziges Mal wollte sie ihn berühren, und als Justine den Säugling in ihre Arme legte, konnte sie sich nicht sattsehen, und sie bekam Angst, dass sie es nicht schaffen würde loszulassen. Von diesem Moment an lehnte sie es ab, ihn auch nur anzuschauen, bis die Schwester sie nicht mehr fragte. Doch am Tag ihrer Entlassung ging sie nicht direkt zum Ausgang, sondern am Säuglingszimmer vorbei. Sie dachte, sie würde den Abschied fürchten, sie würde sich nicht trauen, den Raum zu betreten, in dem ihr Kind lag, aber als sie vor der Tür stand, hatte sie, im Gegenteil, Angst davor, das Krankenhaus zu verlassen, ohne sich von ihrem Sohn verabschiedet zu haben; hastig trat sie ein und ging die Reihen ab.
    Sie suchte nach ihrem Baby, konnte es aber nicht finden, ihre Augen verirrten sich ständig, und die Säuglinge sahen einander zu ähnlich, als dass sie sie hätte unterscheiden können. Gerade als sie glaubte, ihn gefunden zu haben, brach draußen ein Tumult los, sie hörte Schreie, Rufe, aufgeregte Stimmen, und ohne ihren Sohn ein letztes Mal anzusehen, floh sie aus dem Zimmer, als hätte man sie bei einer Missetat ertappt.
    Eine Menschentraube stand im Flur, verstellte die Sicht auf eine Blutlache und auf Sørensen, der am Boden kniete. Mikileraq tippte Justine auf die Schulter und fragte, was geschehen sei. Svea-Linn sei durchgedreht, gab diese zur Antwort, sie habe sich auf May gestürzt, sie mit einem Messer attackiert, dem Jagdmesser, das sie immer bei sich trage, seit Iven sich umgebracht habe, außerdem, fügte Justine hinzu, habe sie geschrien, dass er sie geliebt habe, sie, Svea-Linn, nicht May, und dass diese ihn niemals bekäme, nur über ihre Leiche.
    Und dann, flüsterte sie, habe sie noch geschrien, schon gar nicht sein Kind.
    Lars löst die Schlingen, er zittert, während er sie entknotet; er findet keinen Puls.
    Nachdem er Magnus aus dem Tuch befreit hat, bettet er ihn auf den Teppich, bei Ole geht es etwas schneller, der Knoten ist

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