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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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weniger fest. Er packt Ole unter den Achseln und zieht ihn zu Magnus, dann legt er ihre Köpfe auf seine Oberschenkel, in dieser Haltung, im Schneidersitz, verharrt er, und er fühlt nichts außer dem Gewicht ihrer Köpfe, und ein Satz pocht in seinem Kopf, es ist deine Schuld, und übertönt alles, jeden Schmerz, jede Trauer, er sitzt zwischen den Toten und wartet, und dieser eine Satz leistet ihm Gesellschaft, seit damals –
    Sivke rief an, sie konnte kaum sprechen, mal flüsterte sie, mal wisperte sie, dann wurde ihre Stimme von einem Schluchzen erstickt, er verstand nicht viel, aber so viel, dass sich Janus getötet hatte. Sie bat ihn, nach Hause zu kommen, er sagte, er könne nicht, er habe nicht das Geld für die Reise, sie sagte, das sei eine Ausrede, er könne, wenn er wolle, und sie bat weiter, inständig, zwischendurch ließ sie den Hörer sinken, dann war ihr Weinen leiser, es war erträglicher, und er bemerkte, dass es ihn nicht berührte, was sie sagte, dass er sich wünschte, sie würde auflegen, und er sagte, dass sie ein anderes Mal telefonieren könnten, aber sie weigerte sich, nein, sagte sie, sie müsse ihm noch etwas sagen, aber sie wolle ihm das persönlich sagen, er müsse unbedingt kommen, er müsse einfach kommen, nein, diesmal unterbrach er sie, er könne nicht, er habe weder Zeit noch Geld, wenn sie etwas zu sagen habe, solle sie es jetzt tun, und sie schrie, gut, er wolle es nicht anders, Janus habe sich ihretwegen umgebracht, er habe von ihnen gewusst, von ihm und ihr und von dem Kind, aber, sagte sie, er, Lars, sei weggelaufen und habe sie damit alleingelassen –
    es ist alles deine Schuld.

4    Ein Puls.
    Ein schwaches Klopfen am Hals.
    Lars springt auf, sucht in den Taschen nach seinem Telefon, kramt in der rechten, dann in der linken, es ist nicht da, er stöbert so lange, bis er es endlich gefunden hat, und gerade noch schafft er es, die Nummer des Krankenhauses einzutippen, er vertippt sich, mehrere Male, ein verpasster Anruf wirft ihn aus der Bahn, endlich hat er es geschafft, aber es hebt niemand ab, und er sieht sich gezwungen aufzulegen, es von neuem zu versuchen, diesmal geht das Tippen besser, diesmal meldet sich eine Frau, und er brüllt sie an, er brauche einen Arzt, einen Arzt!, aber sie versteht ihn nicht, wer spricht da?, wen willst du sprechen?, und er schreit, er brauche Hilfe, sofort, sie müsse einen Arzt schicken, sofort! Sie notiert sich den Namen, die Adresse ist nicht notwendig, jeder weiß, wo Kuupik wohnt, und legt auf, und Lars läuft zum Nebenzimmer mit dem Telefon in der Hand, er hält sich an ihm fest, als könnte es ihn stützen, hämmert mit der Faust an die Tür und schreit, Kuupik, wach auf, wach doch endlich auf, und in der kleinen Pause, die er braucht, um Luft zu holen, öffnet sich die Tür, Kuupik steht da, im Pyjama, und fragt, einigermaßen verärgert, was denn los sei?, was nicht warten könne?, und Lars nimmt seinen Arm, zerrt ihn zu seinem Enkel und dessen Freund und fragt, ob er sie nicht hören konnte?, warum er sie nicht gehört habe?, sie hätten sich nebenan erhängt, was er denn getan habe, geschlafen?, und Kuupik erwidert, seine Stimme ist fest, überzeugt von der Richtigkeit seiner Antwort, ja, er habe geschlafen.
    In diesem Moment wird die Haustür aufgerissen, Lars hört Schritte im Flur, Stimmen, wo seid ihr? Hier, schreit er erleichtert, hier sind wir!
    Komm, gehen wir.
    Anders zieht Idi aus dem Türrahmen.
    Wohin? Ich möchte noch nicht nach Hause.
    Gehen wir zum Kaufhaus.
    Und wie kommen wir hinein?
    Anders kramt in der Hosentasche, holt einen Schlüssel hervor und hält ihn Idi vors Gesicht.
    Du hast den Schlüssel? Gestohlen?
    Anders schüttelt den Kopf und grinst.
    Ausgeborgt. Komm, gehen wir.
    Sie überqueren den Schulhof, nicht ohne auf der Schaukel eine Runde hin- und herzuschwingen, gehen querfeldein auf den Eingang des großen Pilersuisoq zu, Nachfahre der Kolonialhandlungen, zu denen Urahne Tukula keinen Zutritt gehabt hatte, so berichtete zumindest Anders’ Großtante. Kaffee und Spirituosen habe er sich erschleichen müssen, erzählte sie, ein Matrose habe sich immer gefunden.
    Er begriff schnell, dass es den Dänen nicht gefällt, wenn wir ihnen zu ähnlich werden.
    Sie schenkte sich Schwarztee aus der Thermoskanne nach und nahm einen großen Schluck. Da er gezwungen gewesen sei, an den Verwalter der Kolonie Fuchsfelle, Waltran, Robbenfelle und Fische zu liefern, wobei er im Tausch für seine Waren dänischen

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