Anatomie Einer Nacht

Durchfahrt möglich war, hatte Henning erklärt, und mit jeder Information, die er gefunden hatte, hatte sich sein Verhalten ihr gegenüber verändert: Sie war in seinen Augen grönländischer geworden und er dänischer, und das hatte an ihrer Vertrautheit zu nagen begonnen, bis nichts mehr von ihr übriggeblieben war. Sie war die Exotin geworden, die Grönländerin, und nur als diese wollte er sie lieben; sie aber lehnte das ab –
    seit Sara zurückdenken kann, ist ihr ihr Spiegelbild unheimlich; sie erkennt sich nicht sofort, wenn sie sich im Spiegel sieht. Jedes Mal, wenn sie ihr Bild erblickt, zuckt sie zusammen, weil sie meint, eine Fremde zu sehen, im Grunde ist sie davon überzeugt, dass es einen Irrtum gab und jemand ihrer Spiegelung ein falsches Gesicht, eine Verkleidung übergestreift hat. Als Kind stibitzte sie den Kosmetikspiegel ihrer Adoptivmutter und musterte ihr Gesicht hinter verschlossener Tür, niemand sollte sehen, wie wenig sie wusste, wie sie aussah. Als sie dabei ertappt wurde, gab sie vor, eitel zu sein, und die Verstellung gelang ihr, sie wurde sogar gutgeheißen, und Sara bekam einen Taschenspiegel geschenkt, den sie fortan befragte, ihr heimliches Orakel: Bin das wirklich ich?
    Sie weigerte sich, weiter mit Henning über ihre Vorfahren zu sprechen, sie blockte alle seine Versuche ab, er aber verstand nicht, dass sie nicht ihn zurückwies, sondern die Reste ihres grönländischen Lebens, die sie von Zeit zu Zeit überfielen und einen bitteren Nachgeschmack hinterließen.
    In der darauffolgenden Woche saß sie einer Psychotherapeutin gegenüber und sagte, sie habe das Gefühl, keine Kontrolle über ihr Leben zu haben, sie glaube, nur dann eine ausüben zu können, wenn sie ihren Tod plane, sie finde den Gedanken, den Zeitpunkt des Sterbens selbst bestimmen zu können, trostreich, und die Therapeutin runzelte die Stirn, drehte den Kugelschreiber zwischen den Fingern, die Sonne tauchte den Raum in gelbes Licht, und Sara wich dem kalten Blick aus, indem sie auf die Pflanzen in der Ecke starrte, daraufhin sagte die Therapeutin, sie könnten keine Therapie beginnen, wenn Sara keine Erklärung unterschreibe, jeden Selbstmordversuch während der Behandlung zu unterlassen, und Sara stand langsam auf, streifte ihre Sohlen am Teppich ab und erklärte, und sie bemühte sich, die Verachtung, die sie in dem Moment empfand, durchklingen zu lassen: ein Leben zu erhalten, indem der Wille eines Menschen gefesselt würde, woran? An eine Unterschrift?
    Sie sagte, sie könne und werde das nicht unterzeichnen, sie würde etwas verraten, woran sie glaube, sie, die Therapeutin, könne das nicht verstehen, denn ihr Leben folge einem anderen Prinzip, dann nahm Sara ihre Jacke und ging aus der Praxis, erleichtert, einem unmöglichen Versprechen entkommen zu sein.
    Eine Stufe ist durchgebrochen, das Holz ist morsch, stellenweise von Schimmel überzogen. Die Tür ist angelehnt. Das Haus ist eine Hütte, es besteht aus zwei kleinen Zimmern, Küche und Plumpsklo. Im Schlafzimmer liegt eine Matratze auf dem Boden, im Wohnzimmer eine Decke, das ist die gesamte Einrichtung.
    Lars musste Oles Eltern verständigen. Da es in ihrem Haushalt, wie in den meisten Hütten in diesem Teil Amarâqs, keinen Telefonanschluss gibt, musste dies persönlich geschehen, aber bei jedem Schritt hatte er das Gefühl, dass sich sein Körper dagegen sträubte, seine Füße wollten sich nicht von der Erde lösen, er brauchte viel zu lange für das kurze Stück bis zum Supermarkt und würde, wenn er in dieser Geschwindigkeit weiterkröche, die ganze Nacht –
    als ein Auto neben ihm stehen blieb, ein Polizeiwagen.
    Möchtest du mitfahren?
    Lars blickte auf, versuchte vergeblich, das zur Stimme gehörige Gesicht zu erkennen, der Wagen schluckte das bisschen Licht, das die Straßenlaterne spendete, spuckte es aber zugleich wieder aus, so dass er die Augen zusammenkneifen musste, um etwas zu sehen. Er komme vom Krankenhaus, erklärte der Fahrer, er habe von Magnus und Ole gehört.
    Stimmt das, sie sind beide tot?
    Von den Eltern sind lediglich einzelne Körperteile sichtbar, Gittes Arm, Marks Bein, ein schwarzes Haarknäuel zwischen einem Haufen leerer Bierdosen, unter einem Pullover, auf einem Paar Schuhe, braune Haarspitzen auf einem Kissen, die Stickerei braun und rot verklebt, Essensreste, Tierknochen. Sie schlafen oder sind bewusstlos, das Resultat ist dasselbe: Sie sind unansprechbar.
    Lars stupst den Fuß an, der gerade noch mit einer Socke