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Anatomie

Anatomie

Titel: Anatomie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bass jefferson
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und Rechtsmediziner.«
    »Ach, zum Teufel, das mein ich nicht. Ich red von Gamilienfeheimnissen. Ich meine, Familiengeheimnissen. Dreißig Jahre hab ich geglaubt, Leena war weggelaufen. Dreißig Jahre lang hat man mir das erzählt. Irgendwohin – niemand wusste, wohin. Wir ham nich darüber gesprochen – man wusste einfach, dass man darüber nicht sprechen sollte.« Er unterbrach sich, und ich hörte ein Zischen und ein Schlucken. »Ham Sie Familie, Doc?«
    Ich sagte, ich hätte einen Sohn – einen eingefleischten Tennessee-Volunteers-Fan und einen großen Bewunderer von Kitchings’ Collegelaufbahn –, und dass meine Frau vor zwei Jahren gestorben sei.
    »Verdammt, Doc, tut mir leid, das zu hörn. Wirklich leid.«
    »Danke. Ich vermisse sie immer noch. Sehr. Aber man muss weitermachen.« Pause. »Waren Sie je verheiratet, Sheriff?«
    »Nee. War mal verlobt, damals, als ich noch ’n großer Football-Star war. Sie war Cheerleader und Mitglied einer Studentinnenvereinigung. Und obendrein Debütantin in Memphis. Ziemlich hoch hinaus für einen Redneck aus Cooke County. Sie hat mit mir Schluss gemacht, kurz nachdem mein Knie mit mir Schluss gemacht hatte. Die Sache ist nur die, dass sie mir den Appetit auf die Mädchen in Cooke County verdorben hat, wenn Sie verstehn, was ich mein?« Das sei eine Schande, sagte ich; das Leben sei mächtig einsam ohne Frau. Darüber schien er eine Weile nachzudenken. Als er wieder das Wort ergriff, war ich mir nicht sicher, ob er immer noch über die Liebe nachdachte oder ob er ein neues Thema zur Sprache brachte. »Die Leute in Cooke County ham nich viel, Doc«, sagte er. »Ein paar von uns ham halbwegs anständige Jobs, aber die meisten Leute hier oben leben, seit ich denken kann, vonner Hand innen Mund. Vielleicht ist deshalb die Familie so wichtig für uns. Selbst wenn man mit dem Rücken an der Wand steht – besonders wenn man mit dem Rücken an der Wand steht –, hält die Familie zu einem. Durch dick und dünn.«
    »Recht oder Unrecht?«
    »Recht oder Unrecht. So lauten die Regeln. Sie ist dein eigen Fleisch und Blut.«
    Ich dachte darüber nach. Würde mein Sohn Jeff zu mir halten, in Recht oder Unrecht? Was, wenn ich Schande über ihn brachte – wenn ich wegen ungebührlichen Betragens gegenüber einer minderjährigen Studentin gefeuert wurde? Würde Jeff, mein Fleisch und Blut, sich an die Regeln halten? Was war mit Art, meinem besten Freund? Heute hatte er ohne Zweifel den Kopf für mich hingehalten. Würde ich dasselbe für ihn tun, wenn’s hart auf hart kam?
    »Muss schön sein zu wissen, dass Sie darauf zählen können.«
    »Meistens.« Er machte eine Pause. »Nich immer.«
    »Ich kann mir vorstellen, dass es die Sache für einen Sheriff nicht immer leicht macht.«
    Ich hörte ihn noch einmal schlucken, obwohl es sich diesmal nicht so angehört hatte, als hätte er ein Glas angesetzt. »Im Moment ist alles ganz schön verworren, Doc. Sehn Sie, Leena – sie gehörte auch zur Familie. Sie war auch unser Fleisch und Blut. Aber es scheint, als müsste niemand zu ihr halten, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    »Ja, das tue ich. Und ihr Baby – sieht so aus, als könnte das Baby auch ein paar gute Leute auf seiner Seite brauchen.«
    Flüssigkeit gluckerte in den Mund des Sheriffs. »Doc, haben Sie je den Kopf gehoben, sich umgesehen und sich gefragt, was passiert ist?«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Sich gefragt, wie zum Teufel Sie da landen konnten, wo Sie sind, und sich mit dem Mist befassen, mit dem Sie jeden Tag zu tun haben? Tschuldigung.« Ich wartete, bis er fortfuhr. »So hab ich mir das nicht vorgestellt, wissen Sie? Mann, damals, als aktiver Footballer, da hatte ich ’ne Fahrkarte hier raus. Da sah’s so aus, als könnte ich mir den Staub von Cooke County von den Stollen klopfen.« Ich hatte nur kurze Zeit in seinem Amtsbezirk verbracht, doch ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie aufregend diese Aussicht gewesen sein musste. »Und dann wurde ich mit einem Tritt wieder nach Hause geschickt. Konnte nur noch kriechen.« Er atmete laut aus. »Das Komische daran ist, dass ich versucht hab, ’nen guten Job zu machen. Was hier oben nicht immer leicht ist. S’iss viel leichter, ’nen schlechten Job zu machen, wissen Sie? Und jetzt bin ich mir nicht mal mehr sicher, was ’n guter Job ist.«
    »Na, geben Sie nicht auf. Vielleicht klärt sich das alles in Kürze wieder. Wie Ihr Trainer immer sagte, sieh nach vorn und lauf wie der Teufel.«
    »Hat er das gesagt?«

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