Anatomie
Eindeutig nicht perimortem.«
Sie hatte recht; die Rippen konnten nicht zum Zeitpunkt des Todes gebrochen worden sein. »Eine Idee, wie lange vor dem Tod?«
Sie schwang die Lampe mit dem eingebauten Vergrößerungsglas über die Knochen und schaltete das ringförmige Licht ein. »Also, aus dem Hämatom am Bruch hätte sich innerhalb einer Woche bis zehn Tage Kallus gebildet, neues Knochengewebe, also würde ich wagen zu behaupten, dass die Fraktur mindestens zwei Wochen vor dem Tod passierte. Aber der Kallus ist noch mehr knorpelig als knochig, also ist er noch nicht wirklich fest. Nur eine Vermutung – ich müsste eine Literaturrecherche machen, um es genauer sagen zu können –, aber ich würde schätzen, dieser Bruch passierte zwei oder drei Wochen ante mortem.«
»Würden Sie sagen, dass er vereinbar ist mit Verletzungen bei einer Wirtshausschlägerei achtzehn Tage vor dem Tod?«
Sie wirbelte herum und sah mich an. »Ja! Wollen Sie damit sagen, unser Freund hier war achtzehn Tage vor seinem Tod in eine Kneipenschlägerei verwickelt?«
»Und zwar in eine richtige, wenn man dem Angeklagten glauben darf, der auch ein bisschen was abbekommen hat. Ist in einem jener schummrigen Bierlokale aus Schlackenbetonsteinen in Morgan County passiert, die förmlich zu schreien schienen: ›Komm rein und stirb!‹ Zwei Ortsansässige haben die Geschichte bestätigt. Mr. Ledbetter hier hat anscheinend von bösen Männern in Kampfstiefeln ein paar Tritte abbekommen.«
Sie legte die erste Rippe aus der Hand und nahm eine andere. »Hier ist das wirklich Interessante. Sehen Sie den Kallus? Kein hübscher, ordentlicher Ring um den Knochen. Ich habe noch nie einen gesehen, der diese Form hatte.« Hatte ich auch nicht. Der Bereich aus neuem Knochenmaterial war lang und unregelmäßig; statt einen Querschnitt der Rippe zu umschlingen, erstreckte er sich über mehr als fünf Zentimeter entlang einer klumpigen, welligen Bahn. »Seltsam, was?« Ich nickte. »Muss ein Splitterbruch mit vielen Bruchstücken sein«, fuhr sie fort. »Aber das ist noch nicht alles. Sehen Sie sich das distale Ende des Bruchs an, das von der Körpermitte weg gerichtet ist. Da fehlt was.«
Ich beugte mich näher über die Lupe. Tatsächlich, unter dem einen Ende des Kallus befand sich in dem darunter liegenden Knochen eine Ausbuchtung. »Hol mich doch der Teufel«, sagte ich. »Sieht aus, als wäre ein Stück abgesplittert.«
Miranda nickte aufgeregt. »Aber wo ist das fehlende Stück?«
»Vielleicht irgendwo im rechten Lungenflügel«, sagte ich.
»Genau das habe ich auch gedacht.« Sie grinste. »Schauen wir doch nach.«
»Nein, ich schaue nach«, sagte ich. »Und Sie lassen Ihren Arm richten.«
Sie verzog das Gesicht, doch dann strahlte sie wieder. »Das ist ein toller Fall!«
»Ja. Und ich bin sehr froh, dass Sie mir dabei helfen. Hervorragende Arbeit, Miranda. Danke.« Ich sah sie an und hielt ihren Blick fest. Ihre Augen glitzerten und füllten sich mit Tränen – verdammt, sie würde doch nicht schon wieder anfangen zu weinen? –, doch dann lächelte sie und nickte knapp. Gott sei Dank, dachte ich und nickte ebenfalls.
Ich ließ sie am Lieferanteneingang zur Krankenstation aussteigen. Wir waren dort regelmäßig zu Gast, wenn wir – wie so häufig – nicht unbedingt über den Fluss zum Leichenschauhaus fahren wollten und rasch mal ein paar Röntgenaufnahmen brauchten. Miranda stieß die Tür des Pick-ups mit der Hüfte zu und winkte mir mit ihrer gesunden Hand.
Ich überquerte den Fluss – unseren ganz persönlichen Styx, wie einer meiner Kollegen einmal im Scherz gesagt hatte; doch das hätte dann geheißen, dass ich Charon, der Fährmann des Todes, wäre, und ich war mir nicht sicher, ob mir das gefiel –, fuhr hinters Unikrankenhaus und parkte neben der Laderampe des Leichenschauhauses. Ich tippte den Zahlencode für die Tür daneben ein und eilte hindurch. Zuerst ging ich in den Röntgenraum, wo ich mir Ledbetters Akte heraussuchte und die Aufnahmen an einen Röntgenbildbetrachter hängte. Seine Rippen waren in einem miserablen Zustand: Auf der rechten Seite waren sechs Rippen gebrochen, drei von ihnen an zwei oder mehr Stellen. Die siebte Rippe – die letzte »echte« Rippe, die so hieß, weil sie noch bis zum Brustbein führte, während die »falschen« Rippen darunter dies nicht taten – wies einen der schlimmsten Trümmerbrüche auf, die ich je gesehen hatte; es sah aus, als wäre das eine Ende durch einen Müllzerkleinerer
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