Anatomie
Er grübelte. »Nach vorn. Ja. Vielleicht.« Er holte noch einmal tief Luft, als wollte er noch etwas sagen. »Doc, ich vertrau Ihnen, und dassis mehr, als ich über ’nen Haufen Leute sagen kann. Ich hab mich danem benomm, als ich Sie erschießen wollte, und dafür möcht ich mich entschuldigen.«
»Danke.«
»Und machen Sie den verdammt besten Job, den Sie können, haben Sie gehört?«
»Das werde ich. Und Sie auch, Sheriff.«
»In Ordnung. Bis bald, Doc. Sie sollten zusehen, dass Sie noch ’ne Mütze Schlaf kriegen.«
Erstaunlicherweise gelang mir das sogar.
23
Als ich ins Knochenlabor kam, arrangierte Miranda gerade die Rippen des verstorbenen Billy Ray Ledbetter auf einem Tablett. Der Rumpf hatte anderthalb Tage in unserem größten Kessel gekocht, einem Mazerationskessel etwa von der Größe einer Badewanne aus der Pionierzeit. Mirandas Miene nach zu urteilen, war der Kessel jedoch nicht das Einzige, was gekocht hatte. Sie wandte den Blick ab, als sie mich hereinkommen sah. Bleib ganz ruhig und entspannt, sagte ich mir. »Gibt’s was Interessantes?«
Sie wurde rot. »Das zu beurteilen überlasse ich Ihnen.« Sie schob das Tablett über den Arbeitstisch zu mir herüber und eilte zur Tür. So viel zu ruhig und entspannt.
»Miranda, warten Sie bitte.« Sie hielt inne, die Hand am Türknauf. »Bitte. Kommen Sie und reden Sie mit mir darüber.«
»Sie brauchen mich nicht, um Ihnen etwas darüber zu erzählen. Sie brauchen dazu auch keinen Pathologen. Zum Teufel, eine Erstsemesterstudentin – eine gottverdammte Erstsemesterstudentin – könnte Ihnen die Geschichte dieser Rippen erzählen.«
Sie machte es mir nicht leicht. »Ich meine nicht, was mit den Rippen nicht stimmt. Ich meine, was zwischen uns nicht stimmt.«
Sie drehte sich um. »Uns? Es gibt kein ›uns‹, Dr. Brockton.« Sie drehte den Knauf und öffnete die Tür ein Stück.
»Miranda, warten Sie. Schauen Sie, ich habe einen Fehler gemacht. Es tut mir leid, was da passiert ist, und es tut mir leid, dass Sie mich dabei beobachtet haben.«
»Ja, mir auch.« Voller Wut stieß sie die Tür auf, die draußen gegen den Türstopper knallte, zurückschlug und sie am Unterarm traf. Miranda schrie auf vor Schmerz. »Au, Mist! Autsch, verdammt! Oh, verflucht! Au, au, au!« Ich ging auf sie zu, doch sie sah mich kommen und schob sich mit der Schulter durch die Tür, um mir zu entfliehen. Die schwere Stahltür fiel hinter ihr ins Schloss.
Ja, Einstein, das ist ja super gelaufen, schimpfte ich höhnisch mit mir. Was für ein Schlamassel. Ich ließ mich auf einen alten Hocker plumpsen, legte die Stirn auf die Arbeitsfläche, schloss die Augen, atmete dreimal tief durch und versuchte, mich zu beruhigen, indem ich auf die Geräusche um mich herum lauschte statt auf den Aufruhr in mir drin. Irgendwo in den Eingeweiden des Gebäudes trommelte die Lüftungsanlage. Draußen, jenseits des Labyrinths aus Stahlträgern und Betonpfeilern, summte unerbittlich eine Motorsense, stieß einen abgewürgten Schrei aus und erstarb. Augenblicke später schwieg auch die Lüftung. In der plötzlichen Stille war alles, was ich hörte, ein tiefes Stöhnen wie von einem Tier, das Schmerzen hat. Ich schaute aus der Fensterwand des Labors, wo die Laute herkamen.
Miranda hockte zusammengekauert auf den Betonstufen vor dem Stadion, Handtasche und Rucksack lagen ein paar Stufen unter ihr. Sie beugte sich vor, drückte den rechten Arm an die Brust und schluchzte aus tiefstem Innern. Ich eilte nach draußen. Als ich näher kam, sah ich, dass die Ulna – der Unterarmknochen, der vom Ellenbogen zum Handgelenk führte – einen klumpigen Knick hatte, der vor sechzig Sekunden noch nicht da gewesen war. Der Knochen war gebrochen. Das wurde ja immer schlimmer.
»Miranda, Sie sind verletzt. Lassen Sie mich einen Blick darauf werfen.« Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter.
Doch sie schüttelte sie ab. »Fassen Sie mich nicht an. Lassen Sie mich einfach in Ruhe.«
»Nein. Ich lasse Sie erst in Ruhe, wenn Sie zum Arzt gehen.«
»Ich bin ein großes Mädchen, okay? Sie müssen sich nicht um mich kümmern. Abgesehen davon möchte ich nicht, dass Sie zu Ihrer nächsten Verabredung zum Babysitten zu spät kommen.«
»Miranda, ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe so etwas vorher noch nie gemacht, und ich werde es auch nie wieder machen. Es tut mir leid, aber ich bin auch nur ein Mensch.«
»Aber … warum ausgerechnet sie?« Damit fing sie von neuem an zu schluchzen.
Jess hatte
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