Anatomien
mit einem BBC-Radiosender.
Nichts scheint Aubrey de Grey mehr zu ärgern als der Einwand: Und was sollen wir mit all der vielen Zeit anfangen? „So eine Frage ist eines intelligenten Menschen unwürdig“, entgegnet er. Aber von der Hand zu weisen ist sie auch nicht. Das Leben zu verlängern lohnt sich nur, wenn es einen Zweck hat. Unsere technologischen Hilfsmittel benutzen wir bisher dazu, schneller zu rennen, höher zu springen und die Welt anders zu sehen als zuvor. Warum also das Leben verlängern? Was haben wir davon? Ich lasse mich von der Frage nicht abbringen und frage ihn, was er persönlich mit seiner Zeit anfangen würde. De Grey fällt die Antwort nicht leicht. „Warum soll ich mich denn jetzt für irgendwas entscheiden? Das ist doch Wahnsinn“, tobt er. „Mehr Zeit wofür? Das weiß ich doch auch nicht! Genau darum geht es schließlich. Mein Leben war bis jetzt ziemlich unberechenbar, und das war gut so. Es geht um mehr Zeit. Aber diese Zeit ist nur ein positiver Nebeneffekt. Eigentlich geht es um die Gesundheit. Ich bin ein Menschenfreund.“
„Wenn man mit 85 noch den Körper eines 30-Jährigen besitzt, will man irgendwann auch nicht mehr nur Golf spielen“, lacht er. „Man kann mal was Neues ausprobieren. Man kann eine neue Karriere und eine neue Beziehung beginnen, immer wieder.“ Er versucht, es mir durch einen Aphorismus begreiflich zu machen: „So viele Frauen – und so viel Zeit.“ Diese Formulierung gefällt ihm ganz offensichtlich, ich finde später heraus, dass er sie seit Jahren verwendet. Aber sie zeigt, dass er auf das Entscheidende nicht eingeht: Wir leben ohnehin schon ewig, indem wir Kinder bekommen.
Viele unserer Mythen und Geschichten beschäftigen sich intensiv mit unserer Lebensdauer und kommen zu teils ganz anderen Schlussfolgerungen als de Grey. Die Uralten gehören zum Inventar vieler Erzählungen. Der biblische Methusalem wurde 969 Jahre alt. Die Übertreibung ist nachvollziehbar. Früher starben die meisten spätestens mit 30, und trotzdem lebten einige doppelt oder sogar dreimal so lang. Heute ist das anders, wir sterben alle ungefähr im selben Alter, und wir haben deshalb auch keine Geschichten, in denen jemand 150 oder 200 wird. Die statistische Entwicklung könnte darauf hinweisen, dass unserer maximalen Lebenserwartung engere Grenzen gezogen sind, als de Grey annimmt.
Methusalems Alter wird uns im Buch Genesis ganz sachlich mitgeteilt. In neueren Geschichten werfen uralte Figuren dagegen oft moralische, soziale und wirtschaftliche Fragen auf, die auch die Gerontologen und Demografen heute beschäftigen. Die Struldbrugs in Gullivers Reisen zum Beispiel. Sie werden zwar alt, aber sie sterben nicht. Damit sie nicht den gesamten Besitz an sich binden, müssen sie irgendwann im Interesse der nachfolgenden Generationen für tot erklärt werden.
Vielleicht am besten veranschaulicht Die Sache Makropulos die Probleme, die die Unsterblichkeit mit sich bringen könnte . In Karel Čapeks Komödie von 1922, die später von Leos Janáček vertont wurde, geht es nicht um ewiges, aber um ein sehr langes Leben, in dem nicht das Alter, sondern die besten Jahre stark ausgedehnt sind. Es geht um eine 1601 von Hieronymus Makropulos am Hofe Kaiser Rudolf des II. entwickelte Substanz, die das Leben um 300 Jahre verlängert. Rudolf hat Angst davor, vergiftet zu werden, und verlangt deshalb, dass seine Tochter Elina die Substanz zuerst ausprobiert. Die Handlung beginnt 1922, und zwar in Prag, wo seit fast einem Jahrhundert ein bestimmter Rechtsstreit verhandelt wird. Nach und nach stellt sich heraus, wie erstaunlich viel die Diva Emilia Marty, eine der Hauptzeuginnen, über lange zurückliegende Aspekte des Verfahrens weiß, vor allem über eine Reihe von Frauen, deren Namen alle die Initialen E.
M. besaßen. Schließlich packt Emilia aus: Sie ist Elina, wurde 1585 geboren, ist mehrere Hundert Jahre alt, hat mehrmals ihren Namen geändert, um nicht aufzufallen, und inzwischen eine große Anzahl enttäuschter Verehrer zurückgelassen. Die längst schon zynische, lebensmüde Emilia weiß als Einzige, wo sich die magische Formel befindet, und wenn sie weiterleben will, braucht sie einen Nachschlag. Am Ende verzichtet sie jedoch auf diese Möglichkeit und gibt die Formel preis. Die Hauptfiguren und die Anwälte verzichten ebenfalls, und die Formelgelangt in die Hände der jugendlichen Tochter des Rechtsgehilfen, die eine Gesangskarriere plant und gerade so alt ist, wie Elina war,
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